„Der Ball wollte einfach nicht ins Feld“

Steffi Graf verlor ihr Halbfinalspiel gegen die Spanierin Sanchez-Vicario debakelhaft mit 0:6 und 2:6 Die Jugoslawin Monica Seles erreichte mühelos gegen Argentiniens Gabriela Sabatini das Endspiel  ■ Aus Paris André L'Heureux

„Der Mensch ist keine Maschine“, verstieg sich Deutschlands Tennis- Aushängeschild Boris Becker bei den Pariser French Open erst kürzlich wieder in philosophische Regionen, um der Welt seine schwankenden Leistungen im Umgang mit dem kleinen gelben Bällchen plausibel zu machen. Wenn das Fleisch nicht mehr willig sei, so der Leimener Analysator weiter, müsse eben der Geist siegen. Dem Körper mehr abringen, als er zu geben bereit ist — das ist das Problem.

Bei Steffi Graf schienen im Trauerspiel gegen das spanische Laufwunder Arantxa Sanchez-Vicario im Pariser Halbfinale weder Körper noch Geist willig gewesen zu sein. Einzig der Regen hätte die Brühlerin an diesem Tag nach einem 0:6 im ersten Satz, der gerade mal 20 Minuten dauerte, noch retten können. Eine Unterbrechung, ein neuer Tag, ein neues Glück — aber das Schicksal wollte nicht mitspielen. Der Regen blieb aus, die Grafsche „Beerdigung“ ging weiter. 0:6, 2:6 — ein Ergebnis, mit dem die jahrelang das weibliche Tennis dominierende Dame ansonsten lieber selbst das Selbstvertrauen ihrer Gegnerinnen zerstört.

„Ich bin maßlos enttäuscht. So schlecht habe ich lange Zeit nicht mehr gespielt“, rätselte Steffi Graf selbst. 1984 in Mahwah verlor sie letzmals einen Satz mit 0:6 gegen die Amerikanerin Daniels. Damals gelang ihr allerdings mit 6:1 und 6:0 eine überzeugende Wende. Davon im Spiel gegen Sanchez keine Spur. Selbst einfachste Schläge mißlangen, „der Ball wollte einfach nicht ins Feld“, resignierte die Brühlerin. 16.500 ZuschauerInnen trauten ihren Augen nicht und erlebten die Demontage eines Stars.

Der Tennislaie ist verblüfft und rätselt: Wie kommt das? Steffi Graf hat in Paris vor diesem Halbfinale noch keinen Satz abgeben müssen und bis auf einen leichten Hänger im Auftaktmatch nie ernstliche Schwierigkeiten gehabt. Auch stand der Name Graf — im Gegensatz zum männlichen Pendant Becker — bisher für die deutschen Tugenden Kontinuität, Arbeit und Fleiß. Der den kleinen Freuden des Lebens schon in jüngeren Jahren aufgeschlossene Boris komprimierte seinen Tennis-Überdruß zuweilen mit Gleichgesinnten wie dem hochspringenden Lebemann Carlo Thränhardt, oder ließ auch schon mal Tennis-Deutschland bei seinen Beziehungskisten mitleiden.

Man kann nur spekulieren, was da in Paris in Steffi Graf vorgegangen ist. Auch die tat- und schlagkräftige Auseinandersetzung ihres Vaters mit einem amerikanischen Exverehrer der Tenniskönigin, kann als Erklärung kaum herhalten: Als die Fäuste flogen, stand es bereits 0:5. Von der Rauferei erfuhr die Tochter erst nach dem Debakel. Die Gründe für die zweite Niederlage gegen die 19jährige Arantxa, die 1989 das Turnier von Paris gegen Steffi Graf gewann, müssen woanders liegen.

Vielleicht ist ein anderer Ansatz ein besserer Schlüssel zum plötzlichen Zusammenbruch der „Gräfin“. Nach einigen Jahren in diesem ermüdenden Zirkus, den sie lange Zeit in jungem Alter bereits alleine beherrscht hat, macht sich die junge Frau Graf zuweilen auch Gedanken, was denn die Zukunft bringen könnte, wie sie sich im Leben nach dem Tennis zurechtfinden wird. Das hat ihr Boris Becker ebenfalls voraus, der seine Sinnkrisen damals in Interviewserien mit einem Hochglanz- Sportmagazin bewältigte.

Anders als die jugendlich-unverbrauchte 16jährige Monica Seles, die dem ganzen Rummel um ihre Person (noch) mit Unbekümmertheit begegnet oder die gleichaltrige deutsche Nachwuchshoffnung Anke Huber, der Tränen die Niederlagen ertragen helfen, war Steffi Graf nach ihrem verlorenen Match einfach leer.

Ein gesenkter Blick, Sätze, die sich in kaum hörbares Gemurmel verloren, gaben Einblick in die Seelenzustände der ehemals von der Konkurrenz gefürchteten „Fräulein Vorhand“. In sieben Tagen feiert Steffi Graf ihren 22. Geburtstag — man weiß nicht, welchen Weg er der besten deutschen Tennsispielerin für die Zukunft weisen wird.

Paris, Halbfinale, Frauen: Arantxa Sanchez- Vicario (Spanien) — Steffi Graf (BRD) 6:0, 6:2; Monica Seles (Jugoslawien) — Gabriela Sabatini (Argentinien) 6:4, 6:1.