Greise Starre

Aus Bangkok Frederic Baker

„Wir singen lauter als die Bomben“, lautete Duong Thu Huongs Programm in ihrer Jugend. Die verbrachte die bedeutendste Schriftstellerin Vietnams an den Fronten des Krieges, Anführerin einer Gruppe kommunistischer Jugendlicher, die zu den Soldaten hinausgingen und mit ihnen sangen — in den gefährlichsten Gebieten, dort, wo die meisten Bomben fielen, dort, wo sie von ihren Einheiten abgeschnitten kämpften. „Sie schlief in den Tunneln und rannte durch die schwärzesten Nächte ihres Landes“, erinnert sich ein Freund, „auf ihren Schultern trug sie Gewehre und Munition. Damals besuchten andere im sicheren Saigon die Universität, nahmen manchmal an Demonstrationen gegen die Krieg teil — und fürchteten sich vielleicht auch vor den Vietkong, die bereits aus der Ferne ihre Schatten auf den falschen Wohlstand der südlichen Hauptstadt warfen.“

„Ich habe sie einmal gefragt“, fuhr er fort, „ob sie damals, in den Nächten von Binh Tri Thien, an die gedacht hat, die sie befreien wollte? Was sie antwortete? — In all den Jahren war der einzige Gedanke, der mich und die Leuten um mich herum erfüllte: Werden wir genug Reis haben? Wann kommt der nächste Luftangriff? Wird der Reis dann schon fertiggekocht sein oder werden wir wieder halbrohen Reis essen müssen? Das war alles. Wir haben an nichts anderes gedacht.“

Bis zur letzten Minute, so sagte sie einmal, glaubte sie an die Revolution. In ihrer Gruppe lernte sie, die Feinde zu hassen, sie hatte ein unbesiegbares Ideal. Nur ein einziges Mal war diese Sicherheit erschüttert, vor langer Zeit — Huong war damals gerade achtzehn und bereits eine Zeitlang an der Front gewesen — als eine Gruppe von Südvietnamesen auf der Straße an ihrem Posten vorbeigeführt wurde. Sie sah die Müdigkeit in ihren Gesichtern. Den Staub und den Geruch von Menschen, die sich wochenlang nicht gewaschen hatten. Sie sah ihre unendlich traurigen Augen. Sie dachte, das sind auch Vietnamesen. Aber sie sprach es nicht aus, konnte es niemandem sagen. Sie vergaß diese Menschen in den nächsten Jahren, ihr Bild sank irgendwo auf den Grund ihres Herzens.

Am Tag der Befreiung Saigons kam sie in eine Stadt, deren Reichtum all ihre Vorstellungskraft überstieg. Was sie aber am meisten verunsicherte, waren die Bücher, die sie dort fand. Sie war ganz sicher gewesen, daß ganz Südvietnam ein einziges Gefängnis sei, wie konnten dann die Menschen dort das Recht haben, so viele Bücher zu lesen. Sie war erstaunt, Dostojewski in Saigon zu finden. Damals habe sie, während andere Kader und Offiziere sich um ihre konkrete Belohnung nach dem Krieg kümmerten, all ihr Geld zusammengenommen — es war wenig, und dazu das Geld, das ihr die Verwandten gegeben hatten, die 1954 in den Süden geflohen waren — und Bücher gekauft, heimlich. Die bewahrte sie auf. In den folgenden Jahren wurden alle im Süden gedruckten Bücher verbrannt. Sie hatte von der kulturellen Säuberung gewußt, die auf den Sieg folgen würde.

Glasnost für 18 Monate

Huong schreibt Bücher und macht Filme. Nach den Jahren des Friedens ist Huong wie zahllose andere Revolutionäre von der kommunistischen Revolution enttäuscht. Einer ihrer Freunde sagte: „Du kannst den Schmerz der Besiegten im Süden mit dem Schmerz der Nordvietnamesen nicht vergleichen, die ihr ganzes Herz der Revolution gegeben haben und nun enttäuscht sind. Die aus dem Süden können weggehen oder resignieren. Aber wir können mit der Trauer nicht leben. Wir können nicht mit einem Kapitel der Geschichte leben, das noch nicht zu Ende geschrieben ist. Wir müssen weitermachen.“

„Huong schreibt über wirkliche Menschen, und daher ist sie so wichtig für die gegenwärtige Literatur in Vietnam“, erklärt ein Beobachter der vietnamesischen Literaturentwicklung. „Sie schreibt vor allem über intelligente und sensible Frauen, die Opfer degenerierter Gebräuche sind, Opfer falscher Ambitionen und der Selbstverständlichkeit, mit der gewisse Klassen ihre patriarchalen Rechte wahrnehmen. Über Menschen, die mit ihren Herzen leben und über die, die Stiefel tragen, um sie niederzutrampeln.“

Nach dem VI. Parteikongreß im Jahre 1986 erklärte der Parteivorsitzende Nguyen Van Linh in einer Rede vor dem vietnamesischen Schriftstellerverband, die Schriftsteller sollten sich ihre Federn niemals durch die Macht, niemals durch Drohungen oder um irgendwelcher Vorteile verbiegen lassen. Tatsächlich wurde in den folgenden 18 Monaten eine erstaunliche Anzahl guter Bücher veröffentlicht. Dazu zählen Luu Quang Vus Die Seele des Poeten in der Haut des Schlachters, Duong Thu Huongs Die blinden Paradiese und Nguyen Huy Thieps Der General im Ruhestand.

Doch die Periode des Glasnost währte nicht lange. Nachdem der Chefredakteur des liberalen Magazins 'Tuoi Tre‘ des Kommunistischen Jugendverbandes und viele andere Journalisten suspendiert und ersetzt wurden, erinnerte die Führung die vietnamesischen Schriftsteller und Journalisten unverblümt daran, daß sie nicht geneigt sei, die Wahrheit zu verdauen, nach der die Bevölkerung hungert. Offiziell verboten ist bis heute ist kein einziges Buch. Allerdings weisen die Literaturzeitschriften und Verlagshäuser nun wieder die Arbeiten aller kritischen Autoren zurück. Auch Huongs Bücher wurden nicht mehr veröffentlicht, doch sie schrieb weiter.

Die relative Freiheit der Presse, die versprochen worden war, hat es für kurze Zeit gegeben, nun ist sie wieder verloren. Einige Journalisten haben nicht aufgegeben. Sie versuchen weiter, die Grenzen ihrer Spielräume zu erproben, ständig im Bewußtsein der Risiken, die sie dabei eingehen. Andere sagen: Es gibt Zeiten — und in der jüngeren Geschichte Vietnams sind das alle Zeiten — in denen du einfach den Mund hältst und wartest.

Aber Huong hat den Mund nicht gehalten. Als sie von einer Pariser Zeitung gefragt wurde, was sie für die größte Errungenschaft der vietnamesischen kommunistischen Revolution hielt, sagte sie, die größte Leistung der vietnamesischen KP seit ihrer Gründung sei es gewesen, aus den Menschen all ihre Liebe für ihr Land zu pressen — und es für ihre Zwecke zu nutzen.

Wer sie zuletzt sah, fand sie bleich. Und sie war einsam. Die drohende Verhaftung lag bereits in der Luft, und es hatte auch schon ganz konkrete Warnungen gegeben. Gefragt, ob sie sich fürchte, erwiderte Huong: „Weißt du, wen ich am meisten auf der Welt fürchte?“ „Wen?“ „Meine Mutter. Sie weiß, was mit mir geschehen könnte. Sie fragt nicht, was ich tue und was ich tun werde. Sie bittet mich nicht, es zu unterlassen. Sie fragt nicht, was sie mir sagen oder womit sie mir drohen. Sie ist nur still. Und sie weint jede Nacht.“

Tauben, die nicht sterben wollen

Huong wurde verhaftet, nachdem ein Ausländer bei der Ausreise aus Vietnam mit einem ihrer Manuskripte im Gepäck gefaßt wurde. Sie nahmen ihn am Flughafen fest. Ein Dissident, der von Huongs Festnahme hörte, sprach der Unsichtbaren Mut zu: „Huong und auch die, die ihre Festnahme angeordnet haben, sollen wissen, daß ihre Freunde und die Freunde der Freunde sehr besorgt sind und sie nicht allein lassen werden.“

Ein Morgen in einem Teashop in Hanoi. Aus dem kleinen Transistorradio des Wirts, ein Kriegsveteran, ertönt ein romantisches Revolutionslied: „Wäre ich ein Vogel, dann wäre ich eine weiße Taube; wär ich eine Pflanze, dann eine Sonnenblume; und wäre ich ein Mensch, so würde ich für mein Land sterben.“ Der Veteran gießt lauwarmen Tee in unsere Tassen nach: „Warum soll ich für mein Land sterben? Ich muß dafür leben.“