Italien: Referendum gegen Klientelismus und Wahlbetrug

Morgen Abstimmung über Änderung des Wahlgesetzes zum Abgeordnetenhaus/ Erstmals könnte der antidemokratische Klientelismus getroffen werden  ■ Aus Rom Werner Raith

Auf dem Wahlzettel sehen die beiden Fragen äußerst harmlos aus: „Wollen Sie, daß der zweite Satz des Artikels 59 des Gesetzes 361 aus dem Jahr 1957 gestrichen wird?“ Und: „Wollen Sie, daß Artikel 61 gestrichen wird?“

Das Gesetz 361/57 ist das geltende Wahlgesetz für das italienische Abgeordnetenhaus. Die Bürger sollen sich kommenden Sonntag und Montag äußern, ob sie es ändern wollen — und diese Modifikation hat es derart in sich, daß unter Politikern und Intellektuellen eine Polemik von außerordentlicher Bösartigkeit entflammt ist.

Abgeschafft werden soll die Möglichkeit der „Präferenzen“, der Stimmenhäufelung, sowie die Wahl durch Angabe lediglich der Listenplatznummer eines Kandidaten. Künftig soll nur noch mit einer Stimme gewählt werden können, und statt des Nummernsystems müssen volle Namen auf den Stimmzetteln stehen.

Italien wählt nicht wie die Bundesrepublik mit unveränderlichen Listen. Gewählt wird durch Ankreuzen einer Partei — dies bestimmt die Zahl der Sitze — und die Angabe des Namens oder der Listenplatznummer des Kandidaten. Bisher konnte jeder Wähler vier Stimmen vergeben — jedoch jeweils nur in der von ihm gewählten Partei, also nicht kreuz und quer durch die Parteien. Er konnte alle vier einem einzigen Kandidaten zuteilen oder aber vier verschiedene Namen (oder Nummern) draufschreiben. Die Verwendung von Nummern wurde 1959 eingeführt, angeblich als Erleichterung für die damals noch zahlreichen Analphabeten (ca. 20 Prozent).

Doch Stimmenhäufelung wie Nummernwahl befördern bis heute zwei üble, althergebrachte Tendenzen: Klientelismus und Wahlbetrug. Italiens Politiker (speziell die der Regierung) sammeln in ihren Wahlbezirken und auch anderenorts — etwa in Ämtern und Betrieben — Gefolgsleute, die ihnen Stimmvieh verschaffen: Verwandte, Freunde, Bekannte, die dem Kandidaten mit den jeweils verfügbaren vier Stimmen weit nach vorne helfen. Erreicht er 30.000 Präferenzen, gilt er als „geeignet“ für den Vorsitz einer Parlamentskommission, mit 50.000 ist er staatssekretärswürdig, ab 80.000 ministrabel. Gegenleistung: einmal gewählt, drückt er seine Klientel in ihm zugängliche Posten und sorgt für gute Karrieren.

Weiteren Zuwachs bietet die Nummernwahl: Heerscharen von Wahlhelfern bedrängen die Schreibschwachen und reden ihnen Nummern ein. Und noch eine weitere Möglichkeit bietet das System: Wahlfälschung ist mit Nummern viel leichter durchzuführen als mit Namen; eine 3 oder eine 6 läßt sich leicht in eine 8 verwandeln, eine 1 in eine 7 usw. Ganze Regionen, erkannten Kontrolleure in den letzten Jahren, erleben nur noch manipulierte Wahlen; unzählige zwielichtige Gestalten kommen so ins Parlament. Mafia und Camorra beziehen ihre Stärke und ihren Einfluß auf die Politik aus diesem System: die Parteien sind nur noch riesige Konglomerate von Klientelströmungen.

Die Initiative zur Abschaffung dieser Manipulationsmöglichkeiten stammt von einer Querbeet-Koalition aus linken Christdemokraten, Kommunisten und Grünen, auch die Republikanische Partei, die Liberalen und die Neofaschisten machen mit. Breitseiten kommen dagegen von den Sozialisten. Die Partei verdankt den steilen Aufstieg der letzten Jahre (in zehn Jahren von 9 auf 18 Prozent) gerade dem System der Präferenzen-„Empfehlung“ durch mächtige „Freunde von Freunden“ — vor allem in Sizilien und Unteritalien, wo die Clans über mehrere hunderttausend manövrierbarer Stimmen verfügen. Da die PSI aber alleine kein „Nein“ zum Referendum erzwingen kann, hat sie zum Boykott aufgerufen — und ihre Süd-Klientel hilft bereits mit Einschüchterungen nach. Da kursieren beispielsweise Drohungen, daß wer zur Wahl geht, einen Unfall haben könnte. Gehen weniger als 50 Prozent der Bürger zu den Urnen, ist das Referendum gescheitert. Zahlreiche Intellektuelle, Wissenschaftler, Geistliche haben inzwischen gegen den Boykott mobil gemacht.