Äthiopien: „Ich habe nur dem Volk gedient“

Zweihundert Funktionäre des alten äthiopischen Regimes sitzen in Addis Abeba in einem selbstverwalteten Knast/ Alle dementieren sie, an Untaten der Mengistu-Herrschaft beteiligt gewesen zu sein/ Ein Regime in Opposition zu sich selbst?  ■ Aus Addis Adeba Bettina Gaus

„Die EPRDF-Leute benehmen sich in Addis Abeba, als sei es ihre Hauptaufgabe, alten Frauen über die Straße zu helfen“, bemerkt eine Journalistin in der äthiopischen Hauptstadt spöttisch. Tatsächlich zeichnen sich die höflichen, verwahrlost aussehenden Kämpfer aus dem Busch durch disziplinierte sanfte Freundlichkeit aus. Und nicht nur die Bevölkerung zieht aus der Milde Nutzen — auch die Repräsentanten des alten Regimes. An die 200 ehemalige Spitzenkräfte aus Politik, Partei, Militär und Verwaltung werden gegenwärtig in der alten Schule für politische Kader gegenüber der Universität festgehalten — unter Bedingungen, die jeden Modellversuch des modernen Strafvollzuges in den Schatten stellen.

Ein gutgekleideter Mann erklärt freundlich am nicht verschlossenen, eisernen Eingangstor: „Die nächste Besuchszeit ist erst am Nachmittag.“ Ach so, wir seien Journalisten? Das sei etwas anderes, wie dürften passieren. Der Mann stellt sich selbst als Gefangener vor. Er gehöre zum Selbstverwaltungskomitee, das beschlossen habe, die tägliche Besuchszeit auf sechs Stunden zu begrenzen. Die nimmermüde Fürsorge der Familien habe die Inhaftierten belästigt und ihnen keine Möglichkeit mehr gegeben, sich auszuruhen.

Durch großzügige, grüne Parkanlagen mit Bänken, die zum Verweilen einladen, gelangen wir zum Verwaltungsgebäude. Der Gefängniskommandeur Halerom Alemu begrüßt uns herzlich. „Die meisten der hier Gefangenen haben sich freiwillig gestellt und erwarten jetzt hier ihren fairen Prozeß. Draußen wartet gerade ein General auf seine Registrierung.“ Nein, er habe keine Angst, daß jemand die Gelegenheit zur Flucht nutze: „Wohin sollen die Gefangenen denn gehen? Hier drin sind die meisten sicherer als draußen. Dort hätten sie den Zorn des Volkes zu gewärtigen.“

Nicht alle Repräsentanten des alten Regimes glauben offenbar an einen fairen Prozeß. Einige haben in der italienischen Botschaft Zuflucht gesucht, unter ihnen Mengistus Nachfolger für wenige Tage, Tesfaye Gebre Kidan, und der bis Anfang Mai amtierende Premierminister Hailu Yemenu. Letzterer beging schließlich Selbstmord. Und ein Mann, dessen Name in diesen Tagen immer wieder genannt wird, wenn von Massakern, von Folter und Verfolgung die Rede ist, wird an einem geheimen Ort festgehalten: Das ehemalige Politbüromitglied Legesse Asefa. Er ist für uns nicht zu sprechen.

Aber sonst wohnt hier jetzt fast jeder, der unter Mengistu Rang und Namen hatte und der sich nicht rechtzeitig ins Ausland abgesetzt hat. Wir sind frei, zu sprechen mit wem immer wir wollen — ohne Zuhörer, ohne Auflagen. Im ersten Aufenthaltsraum, den wir betreten, sitzen sechs Männer in Trainingsanzügen. Sie spielen Karten und essen, scheinen sich über die Abwechslung zu freuen. Nein, sie hätten keinen Grund zur Klage, sagen die Männer, sogar Fernseher stünden zu ihrer Verfügung. In den Gefängnissen des alten Regimes sind über Jahre hinweg Gefangene gefoltert worden, viele verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Sei die EPRDF also besser als die frühere Regierung? Oh ja, viel besser, wird uns in schöner Einmütigkeit versichert.

Auf beklemmende Weise gleichen sich die Antworten: „Ich habe nur getan, wovon ich glaubte, es sei gut für mein Land,“ sagt ein Mitglied des ehemaligen Zentralkomitees. Ein General meint: „Ich erwarte einen fairen Prozeß, und ich denke, sie sollten mich freilassen. Ich habe lediglich der Regierung gedient und Befehle befolgt. An Massakern war ich nie beteiligt.“ Immerhin hält er für möglich, das es sie gegeben haben könnte: „Bei so vielen schlecht trainierten Soldaten läßt sich das nicht ausschließen.“ Der ehemalige Chefredakteur des Parteiorgans hat sich selbst gestellt: „Ich wollte nicht fliehen. Ich bin kein Krimineller. Ich habe nur dem Volk gedient.“

Ranghöchster Gefangener in der Schule ist Fisseha Desta, bis zum 24.April Äthiopiens Vizepräsident. Auch er ist sich keiner Schuld bewußt: „Warum sollte ich ins Gefängnis kommen? Ich bin kein Krimineller. 17 Jahre war ich in der Verwaltung beschäftigt — ich hatte nichts mit dem Militär und nichts mit Massakern zu tun.“ Seit Jahren schon habe er sich mit Mengistu nicht mehr verstanden und mehrfach zurücktreten wollen: „Er hat das nie akzeptiert, und wer sich gegen ihn stellte, war in Lebensgefahr. Wenn Mitglieder der Regierung angeklagt werden müßten, dann eigentlich vor allem wegen Feigheit gegenüber Mengistu.“ Der gestürzte Präsident scheint Schrecken selbst noch von seinem Asyl in Simbabwe aus verbreiten zu können. Fisseha Desta selbst sei schließlich gefeuert worden, weil Mengistu ihn verdächtigt habe, Staatsgeheimnisse an die tigreischen Rebellen zu verraten. Seine Gesundheitsprobleme, offiziell die Begründung für seinen Rücktritt, seien nur ein Vorwand gewesen. Jetzt wünsche er vor allem eines: „Addis Adeba soll zur Ruhe kommen.“

Die Wölfe der alten äthiopischen Regierung haben Kreide gefressen. Will man dem glauben, was sie jetzt offenbaren, dann hatte Mengistu selbst unter den Spitzenkräften des Landes kaum noch Anhänger — ein Regime scheint in Opposition zu sich selbst gestanden zu haben.

Aber es ist erst wenige Tage her, daß mitten in der Stadt ein Munitionsdepot in die Luft geflogen ist und die EPRDF-Übergangsregierung von einem Sabotageakt gesprochen hat, für den Anhänger des Mengistu- Regimes verantwortlich gewesen seien. Was denken die Gefangenen — ist es nicht leichtsinnig von ihren siegreichen Feinden, sie so ungehindert mit der Außenwelt kommunizieren zu lassen? Offenbart sich darin souveräner Großmut oder schlichte Dummheit? Lange antwortet auf diese Frage niemand, drei Männer lachen verhalten. Schließlich sagt ein Offizier: „Das kommentiere ich nicht.“