Der Geist brütet über Ruga und Gruga

■ Zum 24. Mal treffen sich die deutschen ProtestantInnen zu einem Kirchentag. Seit zehn Jahren haben sich nie mehr so wenig Gläubige zum gemeinsamen Diskutieren und Beten eingefunden wie dieses Jahr...

Der Geist brütet über Ruga und Gruga Zum 24. Mal treffen sich die deutschen ProtestantInnen zu einem Kirchentag. Seit zehn Jahren haben sich nie mehr so wenig Gläubige zum gemeinsamen Diskutieren und Beten eingefunden wie dieses Jahr im Ruhrpott. Die Veranstaltung ist eher ein Spiegel der Zeit als eine Zeitansage.

Der Geist macht lebendig“, heißt es in einem Brief des Apostel Paulus. Und auf diesen göttlichen Geist und seine Kreativität haben die KirchentagsmacherInnen offenbar gehofft, als sie das diesjährige Protestantentreffen unter das Motto „Gottes Geist befreit zum Leben“ stellten. Lebendig, kreativ, am Puls der Zeit und ihr voraus, „Zeitansage“ will der Kirchentag sein; spätestens seit ihn Wolfgang Huber, Kirchentagspräsident 1985, so apostrophiert hat. Doch der Geist — er weht, wo er will.

Eine kritische Basisbewegung, lautstarke Kampagnen gegen Krieg und Aufrüstung, gegen Rassismus und Ausbeutung der Dritten Welt bestimmten die protestantische Massenveranstaltungen seit Beginn der 80er Jahre. Und die Zeitansage für die 90er? Pluralismus und Pragmatismus, Dezentralisierung und Marginalisierung. Die sozialen Gruppen, die den Kirchentag zu einem kritischen, in doppeltem Sinne jungen Forum machten, haben sich zurückgezogen; es wird weder mobilisiert noch demonstriert, Flugblätter und Spruchbänder mit radikalen Parolen werden nicht gesichtet. Der erste gesamtdeutsche Kirchentag seit 1954 ist ein verhaltenes Ereignis mit kühlen Untertönen, die nicht nur wetterbedingt sind.

Wie üblich gibt es einen bunten Weihnachtsteller voller Angebote, brennende Themen sind durchaus vertreten: von Ost-West über Europa, Ökologie und neue Spiritualität. Doch in der brüderlichen Umarmung erstickt jede Dissonanz. Die Harmonie, die Kirchentagspräsident Erhard Eppler schon für die Vorbereitungen herausstrich, umzingelt fast jedes Podium.

Da betonen im „Forum Polen“ ein Vertriebenenpräsident und ein polnischer Ex-Ministerpräsident einträchtig den Willen zur deutsch-polnischen Freundschaft. Nur die katholische Kirche in ihrer polnischen Manifestation wird ein bißchen gepiesackt. Da beschwört mit ungewöhnlich sinnlicher Stimme der Stasi-Auflöser Gauck im Eröffnungsgottesdienst die ostdeutsche Realität: „Nach der Wende kommt nicht das Paradies!“ Gut, aber müssen 10.000 Ossis das auf dem Kirchentag erfahren?

Beim Schwerpunktthema „Europa und die Welt“ sitzen u.a. ein General, ein Wirtschaftswissenschaftler und eine Vertreterin vom Weltrat der Kirchen, die aus einem der ärmsten Länder der Welt kommt, nebeneinander. Was passiert? Ritualisierte Kontroverse statt emphatischer Streit. Und mit dem ekligen Lied von den „Allergien, vom Kopf bis zu den Knien“ auf dem Müllforum sind auch alle einverstanden.

Kirchentag 1991. Spiegel der sozialen, politischen und kirchenpolitischen Realitäten: Die Probleme sind bekannt und benennbar — Antworten oder Visionen gibt es keine und der göttliche Funke hat sich verkrochen statt überzuspringen.

Essen, Bochum, Dortmund — zwischen diesen Städten dürfen sich die TeilnehmerInnen zerreißen. Kirchentag in einer ganzen Region ist ein „Experiment“, heißt es im Programm. Es ist mißlungen. Wer von der Essener Grugahalle zur Dortmunder Westfalenhalle gleich neben der Bundesgartenschau will, bleibt auf der Strecke, sprich in den S- und U-Bahnen stecken. Und das durchaus melodische „Halleluja“-Singen in den Bahnen hilft auch nicht mehr.

Das Laientreffen lebte immer von der Masse, vom Geschiebe und Gedränge, überfüllten Hallen und kommunikativem Großgruppenerlebnis. Endlich zu Tausenden, Hunderttausenden sein, nicht vereinzelt in einer fast leeren Kirche. Doch diesmal haben sich nicht nur weniger Dauergäste angemeldet (mit 103.800 ist es der kleinste Protestantentag seit zehn Jahren); die großräumige Verteilung der Veranstaltungen mindert das „Gemeinschaftserlebnis Kirchentag“ beträchtlich. Kaum ein Saal ist mehr als viertel- oder halbvoll. Donnerstag vormittag waren genau 40.000 Menschen in den Veranstaltungen. Wo sind die restlichen mehr als 60.000 geblieben?

Daß nur so wenige Besucher aus dem Osten da sind, erklärt sich das Präsidium mit der angespannten Situation in den FNL. Sicher nicht zu Unrecht. Doch für die miese Stimmung der Ostgläubigen gibt es noch andere Gründe. Und da liegen Kirchen- und Staatspolitik eng beieinander. Diesen Monat steht die Vereinigung der Ost- und der Westkirche bevor. Die Art, wie die EKD den BKU bevormundet und auf seine Linie preßt — beim Paragraph 218 und der Militärseelsorge zum Beispiel — erinnert fatal an die Kolonisation aus Bonn. Wundert es da, wenn in Ostgemeinden zum Treffen mit den Eroberern wenig mobilisiert wurde?

„Der Kirchentagsleitung fehlt es an Dialogbereitschaft und Flexibilität.“ So harsch klingt es aus dem Munde eines Mannes, der selbst in der Präsidialversammlung sitzt. Was Stefan Pofahl ihnen vorwirft, zeigt sich beim § 218 und dem Golfkrieg ganz deutlich: Ein Thema muß schon jahrelang im Gespräch oder mindestens ein Jahr vorher hochgekocht sein, sonst wird nicht mehr entsprechend reagiert. Das „Forum Golfkrieg“ ist mehr als mager und zum § 218 werden sich höchstens die militanten LebensschützerInnen unüberhörbar machen.

Auf soziale und politische Zeitfragen hat der Kirchentag keine Antwort, innerkirchlich haben Tradition und Evangelium abgewirtschaftet: Die Erosion ist mit einem Prozent Mitgliederschwund pro Jahr enorm. Wenn tradierte Vermittlungsmuster versagen, versucht man's mit Kunst, Kultur und anderen Weltanschauungen. Zum ersten Mal gibt es einen Kulturschwerpunkt beim Protestantentreff, der sich traditionell mit Kultur sehr schwer tun. Als Magd des theologischen Wortes war die Kunst stets willkommen, sie wurde mal vereinnahmt, mal ausgegrenzt. Jetzt wird sie nach neuen Formen der Religiosität befragt. Und bei der Suche nach veränderten Ausdrucksformen hat man auch das „Andere der Vernunft“ (Harmut Böhme) entdeckt. New Age, Esoterik, Sekten- (Un-)- Wesen beschäftigen den Kirchentag. Auch hier wird wieder auf den Geist gebaut. Er soll die Dinge bewegen, die die Menschen nicht zustandegebracht haben. Fatalismus- und Schicksalsglaube statt Vertrauen auf die eigenen Möglichkeiten. Hoffen auf den Geist — aber der weht, wo er will. Bascha Mika, Essen