Entertainer zum Anfassen

■ »Summertime« mit Howard Carpendale im Friedrichstadtpalast

Eine Achtjährige heult auf, als sich genau vor ihr eine Riege langbeiniger Wasserstoffblondinen plaziert. Dabei ist Ausweichen im platzstarken Halbstadion des Friedrichstadtpalastes kein Problem. Die Südkurve ist mit Touristenblocks prall besetzt, weiter nördlich fürchten sich schon die einheimischen Ehepaare. Wattesanft hebt sich der Vorhang zum furiosen Auftakt: Big Band, Backgroundchor, Wasserfontänen sprudeln auf einmal los. Sonnig und entspannt legen sich die Streicher ins Zeug und gutgelaunt spaziert Moderatorin Uta Schorn ums Wasserbecken auf der Bühne herum. »Summertime« heißt das neue Programm, sagt sie, und daß wir ab sofort Sommer hätten, daß beim Zwilling eine Liebe selten allein kommt.

Vom Horoskop ist es nur drei Sätze zur Mythologie, worin sie sich jetzt restlos verheddert hat, aber auf unserer Bühne paßt ja wie immer alles wunderbar zusammen. »Ooooder?« droht sie ins Publikum, das wild entschlossen scheint, sich heute zu amüsieren und höflich klatscht. Das Ballett ist zwar gerade in Frankfurt, aber dafür gäbe es ja den wunderbaren Backgroundchor, das Unternehmen Münchehof. »Schließlich«, so plaudert Uta flockig weiter, »heißt Unterhaltung nicht nur, daß man was kluges sagt, sondern daß man sich was Dummes anhören kann.« Macht sie sich über uns oder ihre Gäste lustig?

Das Unternehmen, solchermaßen zweifelhaft angekündigt, steht am rechten Bühnenrand aufgereiht und trällert streng quotiert vor sich hin. Drei bärtige, buntbehemdete, freundlich lächelnde Mittdreißiger mit »Führungsstimmen«, »kaum ersetzbare Sänger«, wie das Programmheft weiß, werden von drei nett frisierten, ihnen ebenbürtigen Sopranetten unterstützt, wovon die eine, eine langhaarige Blondine, als »Kreis«-Leadsängerin Eva Fritzsch so manches DDR-Jungenherz früher höher schlagen ließ. Jetzt singt sie nicht lauter als die andern und schaut in den Einsatzpausen, wenn die Gruppe aufmunternd ins Publikum grinst und sich verlegen in den Hüften wiegt, ein wenig beklommen drein. Aber schon kommt die nächste Sensation: Knackige Mädchenbeine zeigen Fleisch und weiter oben Karstadts Sommerbademoden-Kollektion. Das Orchester legt ein Medley hin, Am Sonntag will mein Liebster pack die Badehose schöne Beine hätt' ..., eine Reihe fängt schüchtern an zu klatschen, und zwischen die Beine schiebt sich wieder Uta mit einem lockeren Spruch, daß Mädchen ja leider oftmals »nicht konkret« seien, denn »wenn man sie sehen darf, dann kann man sie nicht anfassen, und wenn man sie anfassen darf, dann kann man sie nicht sehen ...«

Hahaha, so richtig lustig findet es das Publikum nicht. Richtig anfassen müssen sich jetzt, so Uta, zwei Trapezkünstler. Und als Utopie einer vollkommenen Ehegemeinschaft schwingen »The Robinsons« unter der Friedrichstadtkuppel, so harmonisch, daß unbemerkt das Springbrunnenbecken in der Versenkung verschwindet und ein glatter Bühnenboden das Bühnenlicht erblickt. Dann kommt Solotrompeter Jorgan Kapitanov mit einer sehr gefühlvollen, traurigen Ballade, abgelöst von den Münchehofern, die zeitlosen Rock vom Blatt singen und mit einem kecken »Yeah!« an Uta abgeben, der es jetzt ziemlich »dreckig« geht. Leider fängt sie daraufhin zu singen an, eine debile männerbündelnde Zerstückelungsfantasie. Die Schangsonette quäkt, sie würde von ihrem Liebsten zersägt, aber weil sie ihn »lihihihibt«, legt sie sich »immer wieder hin«. Am Ende, wenn das weibliche Ich tatsächlich zersägt ist, wechselt sie plötzlich die Perspektive, um sich einverständnisheischend mit dem Publikum zu verbrüdern: »Unter uns, sie war ein bißchen doof.«

Das Rennen in dem als »Variete special« angekündigten Potpourri macht an diesem Abend nicht der als Letzter singende Howard Carpendale, sondern das russische Verrenkungswunder-Duo Charkov. Nicht nur das Schwulenpärchen vor mir klatscht begeistert, als sich die unglaublich elastischen Jungmännerkörper um 180 Grad verbiegen, verschlingen, parallel verknoten, dabei aus unmöglichsten Körperlagen strahlend lächeln und zum Abschluß leichtfüßig sich umarmend gemeinsam ein paar Räder schlagen. Tosender Jubel ist ihnen sicher, ebenso ihren Landsleuten Lloudmila und Victor, die über achtzehn Meter hinweg, nur mit einer federnden Stange verbunden, gute akrobatische Arbeit leisten. Victor, für die Standfestigkeit zuständig, prüft die Haltekonstruktion und steigt dann nach oben, eine Stange auf dem Kopf balancierend, auf die sich Lloudmila handständig niederläßt. Dann fährt die ganze Konstruktion noch bis unter die Zirkuskuppel aus, und alle halten den Atem an oder sich, wie Uta empfiehlt, »an ihrem Partner fest«.

In der Pause schlendern die meisten auf der Galerie umher, trinken an vorher reservierten runden Tischchen ein Gläschen Champagner für 13 Mark oder stehen in Besuchergrüppchen debattierend zusammen. Das Schwulenpärchen zieht eine positive Bilanz und überlegt, wo man nachher essen gehen könnte. Zwei ältere Damen durchblättern kritisch das Programm, auf der Suche nach dem nicht vorhandenen Ballett. Alle haben sich ziemlich herausgeputzt, als ginge es zur Konfirmation. Die Männer bevorzugen Seidenkombinationen und festgeklemmte, fantasievolle Krawatten. Ihre ihnen Angetrauten vertrauen auf die zeitlose weiße Bluse und wirken wie Kellnerinnen im Wartestand.

Bevor sich der Vorhang hebt, werden noch einige Werkstattprobleme ausgetauscht. Das nächste Mal Passat, nie mehr Vectra! Mit einem wilden Lassotanz langbemähnter, temperamentvoller Argeninier, die ihr Seil rhythmisch auf die Bühne bretterten, klang der erste Teil aus. Nach Spitzentanz auf Stiefeln, Schweiß und feurigen Blicken, die manch eine Endvierzigerin in der ersten Reihe in Aufregung stürzte, kommt nach der Pause wieder was für die Herrn. Das technologische Wunderwerk der Friedrichstadtpalast-Maschinerie hat das Wasser vom Anfang in eine spiegelnde, runde Eisfläche versetzt, auf der Kim und Yves elegant durch die Gegend schlittern dürfen. Leider kippt der doppelte Rittberger in einen verfrühten Spagat, aber das macht eben die Live-Atmosphäre aus.

Der Chor hat sich, dem nun folgenden Ernst der Programmlage angemessen, schon schwarz umgefrackt. Denn nun kommt er, »er, auf den Sie so lange warten mußten«, strahlt Uta, redet ohne Grund von Toleranz und Mut und distanziert sich in vollendeter Tautologie: »Der Liebling derer, die ihn mögen! Howard Carpendale!« Die blonde Damenriege in der Reihe vor mir erwacht aus ihrer Lethargie, fängt unruhig zu kichern an und packt das Knabbergebäck endlich aus. Die auftoupierte Kartenabreißerin huscht schnell auf einen leeren vorderen Platz. Schüchterne Verehrerinnen rennen mit Blumensträußen und Steiftier auf die Bühne und kriegen ein Küßchen. Mit »Hello Again« schlendert der Star, der nette Nachbar von nebenan, herein, ein bißchen feist, mit Stehkragen über dem Entertainer-Allzweckrock, aus dem der blonde Nackenspoiler quillt. Carpendale, der auch für Berlin und gegen Bonn ist, weil »in hundert Jahren das keiner verstehen würde« tut sich, erstmalig in einen Bunten Abend integriert, schwer. Bis 1970 geht er, Körper- und Seelentouch suchend, in seinem Repertoire zurück und drückt sich, intimer werdend, durch die Reihen. »Alice? Kennen Sie die noch?« fragt Carpendale fast flehend, fordert zum Mitklatschen auf. Die Blondinen schämen sich und kichern, so nahe am Star, verlegen. Carpendale, der Liebhaber der einsamen Herzen aus dem Versandkatalog, singt vom »schönen Mädchen« von nebenan.

Wieder huscht eine mit einem Strauß Rosen nach vorn, gibt ab und nimmt ihren Platz neben dem Ehemann wieder ein. Schließlich ändert Carpendale seine Taktik, macht mehr schlecht als recht auf Elvis-Parodie, und singt ein ernsthaftes Liebeslied mit seinem Chefsänger und Komponisten Joachim Horn. Der, sein schwergewichtiger, aus Funk- und Touch-Zeiten bekannter Kollege am Baß und Howard selbst absolvieren den Abend in der Gewißheit, noch siebzehn Mal das Gleiche zu tun.

»Wir waren zusammen diese Nacht, wir waren Freunde, das ist vorbei, jetzt geht jeder seine Wege«, singt Howard, dem es das Publikum »leicht« gemacht hat, ganz richtig beim großen Finale. Lloudmila bekommt auch noch einen dicken Blumenstrauß von einem geheimen Verehrer in grauer Strickjacke. Etwas unmotiviert tragen zwei Programmverkäuferinnen zwei große Blumenkübel auf die Bühne, bevor sich der Vorhang senkt. Draußen sammeln sich der Hausfrauenbund aus Remscheid, Gruppen aus Stuttgart, München, Bielefeld. Ein bißchen laut sei es gewesen, wird moniert, das Ballett hat gefehlt, die Bühnentechnik beeindruckt. Den Friedrichstadtpalast sollte man erhalten, denn »sowas gibt es bei uns nicht«. In der U-Bahn rekonstruiert eine Herrenrunde Lioudmilas und Victors brenzligste Momente. Dorothee Hackenberg

»Summertime« bis 29. Juni im Friedrichstadtpalast