Überrollt der Ballungsraum das Berliner Umland?

■ »Stadtforum« Teil 5: Gleichgewichtsstörungen zwischen Berlin und der Region/ Im »Sog« des Strukturwandels nur Golfplätze und Dienstleistungswüsten?

Mitte. »Die unmittelbare Region um Berlin und Berlin selbst stehen im Verdacht bevorteilt zu werden, wie es Ost-Berlin schon immer war.« Statt eines voreiligen Regionalverbandes zwischen der Metropole und ihrem nahen Umland sei ein »schrittweises Herangehen« besser, betonte Matthias Platzeck, brandenburgischer Minister für Umwelt und Naturschutz, auf dem fünften Treffen des Berliner »Stadtforums« zum Thema: Umland — Stadt«.

Gleichberechtigung sollten die Interessen zwischen dem Ballungsraum und dem Umland Brandenburg erfahren. Die polyzentrische Struktur der Gemeinden müsse erhalten bleiben. Das »Sternmodell« der Planungsgruppe Potsdam, das die bauliche Entwicklung Berlins entlang der S-Bahnradialen vorsieht, sei darum wenig geeignet. Ein Netz von Naturschutzgebieten müsse als »Gegenströmung« gegen die grassierende Bodenspekulation funktionieren. Dazu seien ein Landesplanungsgesetz zwischen Berlin und seiner Region notwendig.

Die Sorge des Ministers ist nicht unbegründet. Geht es nach dem Willen der Berliner und Brandenburger Verkehrsplaner, wird die regionale Verkehrsentwicklung in den kommenden Jahren von Berlin aus die Region sternförmig überrollen. Sei zunächst an die Wiederherstellung der »gewaltsam zerstörten Schnittstellen gedacht«, wie der Berliner Verkehrstechniker Kalender meinte, so müsse nach der Anbindung der stadtnahen Bereiche der Ausbau von Schienenwegen bis zu 80 km ins Land getrieben werden. Frankfurt/ Oder gehört ebenso zum nahen Umland wie die Stadt Brandenburg. Ein zentraler Fernbahnhof in Berlin, die Verbindung der Stadtautobahn mit dem Südring damit der Flughafen Schönefeld besser zu erreichen sei und die Entwicklung von Transportwegen an bereits vorhandene und zukünftige Gewerbestandorte müßten hergestellt werden. Gleichzeitig sollten die innerstädtischen Wasserwege und ruinösen Hafenanlagen Ost-Berlins ausgebaut werden, um die Anbindung an Stettin und die Ostsee wieder zu gewährleisten.

Die Bindungen West-Berlins an Brandenburg waren, so kommentierten die Referenten, seit den 50er Jahren gekappt. Versuche übergreifender Planungen zwischen dem Ballungsraum und seinem Umland wie sie der »Zweckverband Groß-Berlin« in den 20er Jahren initiierte, zerstörte der Mauerbau 1961 endgültig. Der Austausch von Waren und Dienstleistungen war zwischen West-Werlin und der Region nicht mehr möglich. Traditionelle Bereiche der Eisen- und Metallverarbeitung in Potsdam, Oranienburg oder Treptow stagnierten. Die Pendler zwischen West-Berlin und dem Gebiet Potsdam/Brandenburg gab es nicht mehr. Die Urbanisierung der ländlichen Vorstädte war unterbrochen. Einschneidend in die Topographie der Landschaft war die »Abgrenzung« vom Umland zur Stadt und umgekehrt; selbst am Rand Ost- Berlins. Zugleich ließ die ökonomische und soziale Trennung zwischen West-Berlin und Brandenburg eine bis dato existierende Stadtkante mit einem relativ unbebauten Naturraum und landwirtschaftlichen Nutzflächen entstehen.

Diese für eine Großstadt einmalige Situation, so Cord H. Bahlburg, Mitglied der Planungsgruppe Potsdam, sei geprägt von einem »System von Städten und Landschaften, die sich gegenseitig durchdringen«. Das Berliner Umland sei gekennzeichnete durch seinen Reichtum an Biotopen, schwach entwickelten Gemeindezentren und einem radialen Verkehrssystem. Diese Strukturen müßten gezielt unterstützt werden, forderte Bahlburg, gegen unstrukturiertes Wachstum, wie »Dienstleistungswüsten« und Großsiedlungen auf der grünen Wiese. Zugleich forderte Bahlburg den Ausbau der axialen S-Bahnverbindungen ins Umland und die Kontrolle der bauplanerischen Entwicklungen in der Region.

Sylvia Jakubasch, Dezernentin für Regionalentwicklung im Landkreis Nauen, berichtete, daß der relativ kompakte Nauener Stadtraum und seine ländlich geprägte Umgebung nun »in den Sog Berlins« gerieten. Fehlende Haushaltsmittel, ungeklärte Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden, ein nicht existierender Regionalplan — geschweige denn ein Flächennutzungplan — für die Gemeinde bei gleichzeitigem gewerblichem Ansiedlungsdruck und der Gefahr der Zersiedelung des Grünraums machten es nötig, daß sich Gemeinde, Kreis und beide Landesregierungen auf die Entwicklungen in der Raumordnung abstimmten. Nauen beispielsweise könne als Achsenendpunkt der S-Bahn und räumlicher Mittelpunkt der Gemeinden Friesack, Wustermark und Ketzin zu einem eigenständigen Ort verdichtet werden. Die Stadt werde zum Knoten in einem räumlichen Netz. Gleichzeitig böte sich die Umgebung als Erholungsraum für Berlin an, kommen Golfplatzbauer und Dienstleistungsinvestoren dieser Planung nicht zuvor.

Gegen die Überlegungen von blindwütigen Aufbaumodellen für die strukturschwachen Gebiete an der Berliner Peripherie wandte sich auch der Berliner Stadtplaner Urs Kohlbrenner. Anstatt verkehrstechnisch, wirtschaftlich und räumlich das Umland mit abstrakten Modellen zu bombadieren, sollten eher die brachliegenden »Entwicklungspotentiale einer Kulturlandschaft« entwickelt werden, die nicht zufällig entstand, sondern gewachsen ist. Die Strukturen des Umlandes wie der Stadt Berlin seien, so Kohlbrenner, aus »ganz bestimmten historischen, topographischen und kulturellen Qualitäten« hervorgegangen, — etwa die Berlin-Potsdamer Parklandschaft von Peter Joseph Lenné, die Rüdersdorfer Kalkbergwerke seit dem 13. Jahrhundert oder die Industriestandorte im Süden und Osten Berlins.

Eine künftige Regionalplanung habe dieses »kulturlandschaftliche Netz« zu respektieren und zu fragen, welche Aufgaben ein Ort übernehmen könne, welche Standorte für welche Ansiedlungen überhaupt in Frage kämen. Ein Ausgleich zwischen Berlin und Brandenburg — sei es steuerlicher, finanzieller oder struktureller Art — wäre nicht allein durch technische oder wirtschaftliche Konzepte zu lösen, meinte Kohlbrenner. Es seien Ordnungsmodelle mit einem geschichtlichen Hintergrund wichtig. Rolf R. Lautenschläger