GASTKOMMENTAR
: Die Schlacht von Omdurman

■ Was das Massaker der Briten gegen die „Derwische“ im Sudan 1898 mit dem Krieg der USA gegen den Irak zu tun hat

Heute weiß kaum jemand mehr, was und wann die Schlacht von Omdurman war. Aber die vor kurzem — an nahezu versteckter Stelle — publizierte jüngste Schätzung der Todesopfer im Golfkrieg (120.000 irakische und 371 alliierte Soldaten) erinnerte mich an jenes, nur einigen Historikern noch bekannte Kriegsmassaker vom 2. September 1898. Es war veranstaltet worden von den Truppen der englischen Kolonialarmee unter dem Oberbefehl Lord Kitcheners im Zuge der Eroberung des Sudan. Die Schlacht von Omdurman galt bei den Zeitgenossen und für Jahrzehnte danach (man könnte sagen: bis 1991) als dramatischer Beweis für die Überlegenheit der europäischen Waffen — und folglich der europäischen Kultur — über die farbigen Nationen. Damals wurden 11.000 „Derwische“ massakriert (eine offensichtlich nur annähernde Schätzzahl), bei gleichzeitig lediglich 386 Toten und Verwundeten der Kolonialtruppen. Man wird diese Proportionen als Index für militärtechnologische Über- bzw. Unterlegenheit lesen dürfen, 1:30 also, und wenn wir die geschätzten 16.000 Verwundeten hinzuzählen, von denen die meisten bald ebenfalls gestorben sein sollen, so wäre das ein Verhältnis von 1:70.

Betrachtet man diese militärtechnologische Ungleichheit, können wir allerdings auch sagen, daß ein Massaker solcher Proportionen ein beträchtliches Maß an Brutalität gegenüber und Verachtung für den Gegner reflektiert, mit dem offensichtlich nicht mehr gekämpft, sondern der nur noch abgeschlachtet wurde.

Im Golfkrieg wurde daraus der neue „Rekord“ von 1:400. Der Bodenkrieg, dem die irakischen Soldaten zum Opfer fielen, dauerte bekanntlich vier Tage: Das bedeutet nahezu 30.000 Tote pro Tag — es übersteigt die Einbildungskraft, sich dies konkret vorzustellen. „Turkey shoot“, Truthahnschießen hieß das Zielen auf fliehende Menschen: Angesichts der Zahlen ein geradezu idyllisches Bild für diesen Triumpf einer Unmenschlichkeit, die sich guten Gewissens glaubt. Und da diese vielen Toten Siegern und Besiegten gleichermaßen unangenehm sind, werden sie aus unserem Bewußtsein getilgt, wird nichts an sie erinnern. Keine Antigone tritt für sie auf die Bühne des Weltgewissens.

Bei einem durchaus konservativen englischen Historiker fand ich zu Omdurman folgende weiterführende Betrachtung: „Die Leichtigkeit, mit der Menschen getötet werden konnten, gab den Imperialisten ein Gefühl der Überlegenheit, das sie sich scheuten, zu genau zu analysieren. Bisweilen drückte sich ihr Unbehagen darin aus, daß sie Witze darüber machten und die Eingeborenen mit den verschiedensten Namen belegten, indem sie sie mit Tieren anstatt mit Menschen verglichen. Diese Praxis war gar nicht so weit davon entfernt, wie die Nazifaschisten später Juden und Slaven als „Untermenschen“ klassifizierten. Die brutalisierenden Auswirkungen solcher Fälle von Massakern, den sogenannten „sportlichen Kriegen“ können gar nicht ernst genug genommen werden; sie erhellen ein Gutteil jener militärisch-politischen Mentalität, die 16 Jahre später zur Hinahme von noch größerem Schlachten in Europa führte.“

Ich zitiere dieses 20 Jahre alte englische Lehrbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen (Northedge/Grieve), weil die historische Distanz das soeben Erlebte und durch US-amerikanische Siegesparaden Verdrängte in seiner perspektivischen Bedeutung erkennen läßt: Dies war, wie bei Hiroshima/ Nagasaki, der Einsatz von Massenvernichtungsmitteln gegen Menschen außerhalb des westlichen Kulturkreises. Er enthielt eine Botschaft, die der Welt auch in unserem — dem europäischen — Namen vermittelt wurde: Von hier und heute geht, wie von den Kolonialmassakern des späten 19. Jahrhunderts und danach mit dem Abwurf der ersten beiden Atombomben eine neue Epoche aus. Um Goethes sensibles Verständnis für die historische Bedeutung der Kanonade von Valmy, 1792, zu phrasieren: „Ihr könnt sagen, Ihr habt's am Fernsehschirm miterlebt.“

Aber, so wäre fortzuführen, Ihr habt auch gleich wieder erfolgreich versucht, es zu vergessen und zu verdrängen. Eine Notiz wie die über die Opferzahlen steht eben nicht mehr auf den ersten, sondern auf den Innenseiten, und das auch nur einiger weniger Tageszeitungen. Die Kriegszensur wirkt fort durch die Kleinschreibung der großen Verbrechen. Die vom Golfkrieg ausgelöste Menschheitskatastrophe (das Wort ist nicht zu hoch gegriffen!) erscheint irgendwo auf einer siebten Seite: Die Ernten und die Gesundheit von Millionen von Menschen — von Indien bis Äthiopien — sind von den stündlich 1,7 Millionen Kilo Rauchpartikeln, die aus den mehr als 500 brennenden Ölquellen Kuwaits in die Erdatmosphäre gelangen und die Sonneneinstrahlung beeinträchtigen, mit bisher unabsehbaren Folgen gefährdet bzw. schon geschädigt. So spielt sich auch noch die Folgekatastrophe einer kriminellen Weltpolitik, die sich soeben in Washington mit einer Siegesparade der „Neuen Weltordnung“ selbst feiert, im Süden ab. Ekkehart Krippendorf

Der Autor ist Dozent am Kennedy-Institut für Nordamerikanistik der FU Berlin.