piwik no script img

Neue Altlast im Greifswalder AKW

Beschädigte Brennstoffkassetten schmoren seit 1975 im Abklingbecken/ Hochradioaktive Brennstofftabletten auf dem Beckengrund/ Atomaufseher Töpfer gibt Gefährdungsstudie in Auftrag/ Schicksal der Schrottkassetten völlig offen  ■ Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) — Drei defekte, abgebrannte Brennstoffkassetten dümpeln seit 16 Jahren im sogenannten Abklingbecken der stillgelegten Blöcke I und II der Atomzentrale in Greifswald. Als Auslöser für die offenbar schweren Schäden an den Brennelementen gelten Schwingungen, die seinerzeit während des Reaktorbetriebs aufgetreten sind. Wieviele der jeweils 126 Brennelement- Rohre aufgeplatzt oder löchrig sind, ist ebensowenig bekannt wie die Zahl hochradioaktiver Brennstoff-Tabletten auf dem Grund des wassergefüllten Beckens. Sie könnten das Kühlwasser schleichend verseuchen. Vor allem: Bisher weiß niemand, was mit dem Atommüll im Wasserbad passieren soll.

Die Leitung der Energiewerke Nord (EWN) und Fachleute der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde im Schweriner Umweltministerium brüten derzeit über technischen Möglichkeiten zur Lösung des Problems. Der Bonner Atomaufseher Klaus Töpfer (CDU) hat bei der „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ in Köln in aller Stille eine Gefährdungsanalyse in Auftrag gegeben. Außerdem warte man „jeden Tag“ auf einen Bericht der Schweriner Umweltministerin Petra Uhlmann (CDU), erklärte Töpfer-Sprecher Goeke gegenüber der taz.

Die Brennstoffkassetten für die sowjetischen WWER-440-Reaktoren sind im Prinzip ähnlich aufgebaut wie die Brennelemente westlicher Druckwasserreaktoren. Der eigentliche Brennstoff aus Urandioxyd- Tabletten („Pellets“) ist in dünnen, etwa drei Meter langen Rohren aus einer Speziallegierung untergebracht. Jeweils 126 dieser Rohre werden in einem mantelförmigen Stahl-Traggerüst zu einer Kassette zusammengefaßt. Drei dieser Traggerüste sind offenbar weitgehend zerstört. Die Kassetten können deshalb nicht aus dem Abklingbecken entfernt werden. Der ferngesteuerte Greifer würde sie unter Umständen vollständig zerstören und könnte so eine erhebliche radioaktive Verseuchung innerhalb, oder schlimmer, außerhalb des Beckens auslösen.

Der Leiter des Vorstandsbereichs Betrieb in den EWN, Bernd Müller, sagte auf Nachfrage, die Schäden an den drei Kassetten seien auf Fertigungsfehler der sowjetischen Hersteller zurückzuführen. Die Situation sei kontrollierbar, solange die beschädigten Brennelemente unter der schützenden Wasserschicht gelagert würden. Mit Hilfe von ferngesteuerten Videokameras habe man das Becken bisher ohne Erfolg auf möglicherweise aus den defekten Brennelement-Rohren gefallenen Pellets untersucht. Allerdings gebe es „tote Ecken“, die die Kameras nicht einsehen können. Radioaktivitätsuntersuchungen des in Abklingbecken stets kontaminierten Wassers hätten bisher keine spezifischen Hinweise auf die hochaktiven Brennstofftabletten ergeben.

Töpfer-Sprecher Goeke zweifelt allerdings nicht daran, daß aus den defekten Rohren „offenbar Pellets herausgefallen“ sind. Nach 16 Jahren könnten sie sich „möglicherweise aufgelöst haben“. Eine denkbare Erklärung dafür, daß niemand sie bisher gefunden habe.

Nach einem Fachgespräch mit Vertretern der für Greifswald zuständigen Genehmigungsbehörde des Schweriner Umweltministeriums bestätigte der zuständige Referatsleiter Manfred Gegusch im wesentlichen die Darstellung Müllers. Die drei „Brennstabbündel“ seien praktisch „ohne Mantel und würden im Reaktor wegen der dort herrschenden großen Wasserströmungsgeschwindigkeiten schnell zerschellen“. Im Abklingbecken bestehe diese unmittelbare Gefahr nicht mehr. Die Bündel seien sicherlich beschädigt. Er jedenfalls würde seinen „Kopf nicht gegen einen Scheuerlappen verwetten“, daß nicht doch weiterhin Pellets am Grund lägen, meinte Gegusch.

Bei dem Gespräch am vergangenen Dienstag ging es nach den Worten von EWN-Vorstand Müller um Möglichkeiten zur Konstruktion „neuartiger Behälter, in die wir die defekten Kassetten reinstecken können“. Ob diese Notbehälter dann in dem außerhalb des Reaktorgebäudes seit 1987 errichteten „Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente“ (ZAB) untergebracht werden können, steht allerdings in den Sternen. Bevor er die defekten Teile neu verpacke, müsse er wissen, was er damit mache, beschrieb Müller das Dilemma. Normalerweise werden undichte Brennelemente — auch im Westen — in eigens dafür konstruierten, festverschließbaren Hülsen („Penalen“) transportiert. Daß herkömmliche Penale auch bei den drei Greifswalder Schrottkassetten verwendet werden können, ist wegen deren „starker Deformierung“ jedoch fraglich. Sonderanfertigungen wiederum passen nicht ohne weiteres ins Zwischenlager.

Was passiert, wenn der hochradioaktive Problemmüll nicht in Greifswald zwischengelagert werden kann, weiß bisher niemand. Sicher ist nur, daß er nicht auf ewig im Abklingbecken vor sich hin schmoren kann. Ebenso, daß die sowjetischen Hersteller defekte Brennelemente nicht zurücknehmen werden. EWN-Chef Drews jedenfalls suchte am Rande der „Jahrestagung Kerntechnik“ Mitte Mai in Bonn händeringend bei seinen Westkollegen nach der erlösenden Idee. Sein Alptraum: Immer mehr Brennstoffhüllen platzen auf, immer mehr strahlende Tabletten verteilen sich auf dem Beckengrund.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen