Die klappernden Störche von Linum

■ Nester auf 14 Dächern im brandenburgischen Storchendorf/ Erst kommen die Männchen vom Winterquartier am Nil zurück und renovieren den Horst/ Erste Jungstörche geschlüpft/ Naturschutzgruppe gegründet/ Rhinluch soll Schutzzone werden

Linum. Wenn der Volksglauben, Störche brächten Glück, wahr wäre, dann müßte das Dorf Linum ein sehr glückliches Dorf sein; das glücklichste Dorf in ganz Brandenburg und eines der glücklichsten von ganz Deutschland. Denn Linum ist schon seit vielen Jahrzehnten ein Storchendorf. Zu Fontanes Zeiten nisteten auf Firsten, Kaminen, morschen Bäumen und auf dem Kirchendach bis zu 34 Weißstorch-Paare, seit Anfang der 80er Jahre konstant 14 Paare. Auch dieses Jahr haben die Störche die Statistik nicht verdorben. Die ersten Männchen kamen Anfang April aus dem Winterquartier am Nil, renovierten ihr Nest auf schön und warteten auf die Störchinnen. Die letzen der Damen kamen jedoch ungewöhnlich spät, erst Mitte Mai. Und weil das Frühjahr so kalt und der Sommer so spät war, schlüpften auch die ersten Jungvögel arg verspätet. Normalerweise, erzählt der Storchenkenner Ortwin Schmidt besorgt, müßten Anfang Juni mindestens in der Hälfte aller Nester die Jungen »jaulen«. Gesichert sei derzeit, daß gerade erst drei Paare Nachwuchs haben. Auf insgesamt 25 hofft Schmidt, so viele wie im letzten Jahr.

Der stolzeste Nachwuchs präsentiert sich auf dem Giebel der pittoresken spätgotischen Backsteinkirche. Es ist ein Riesennest und wird Jahr für Jahr von den Sommerbewohnern weiter ausgebaut. Heute wiegt es sicher drei bis vier Zentner. Drei Jungstörche sind zu erkennen, neugierig strecken sie ihre flaumigen Köpfchen mit den noch schwarzen Schnäbeln aus dem Horst heraus. Ab und an wird es einem der drei zu eng im Nest, für Sekunden balancieren sie auf dem kunstvoll gewundenen Rand, lassen sich den Wind unter die »Dunen«, ihr Gefieder, blasen. Hauptsächlich fressen die Kleinen. Und hauptsächlich schaffen die Eltern Nahrung heran. Abwechselnd. Alle paar Stunden segeln Vater oder Mutter mit gefülltem Kropf ein, klappern ein bißchen zur Begrüßung und erbrechen Regenwürmer, Insekten oder kleine Frösche aus dem Schlund. In rund zwei Wochen wird die elterliche Arbeitsteilung nicht ausreichen, um alle Jungen satt zu kriegen. Beide werden dann gleichzeitig auf Achse sein, die Jungen werden, unbeaufsichtigt und ganz selbstständig, die ersten Flugversuche wagen. Sie können fliegen, sie müssen es nur üben. Und viel Zeit haben sie dafür nicht, denn in der letzten Augustwoche und mit dem Ende der warmen Land-Aufwinde ist der kollektive Start gen Süden angesagt.

In Linum leben Störche, weil das Umfeld stimmt. Rund um das Dorf und kilometerweit ins Land hinein reiht sich Fischteich an Fischteich. Ungefähr 200 sind es, alle riesengroß und dicht umwachsen mit Schilf. Die Fischteiche sind fast hundert Jahre alt und verdanken ihre Existenz dem abgetorften Hochmoor, südlich des Rhins. Der Fluß und der alte Rhinkanal wurden, nachdem der Torf ausgebeutet war, angestochen, und das Wasser strömte in die tiefen Mulden. Ein empfindliches Ökosystem, dieses »Rhinluch«, heute Brutgebiet von Kranichen und seltenen Wasservögeln.

In den 70er Jahren drohte das gesamte Gebiet zu ersticken. Die umliegenden LPGs schütteten Pestizide en masse auf die Felder. Die Kraniche verendeten, Insekten und Frösche wurden knapp, die Störche boykottierten Linum. Die Regeneration des Gebietes ist der Jagdleidenschaft des alten SED-Politbüros zu verdanken. Erich, der seit Jahrzehnten pünktlich vom 3. Oktober an mit seinem Troß zum Wasservögelschießen in Linum einbrach, ärgerte sich, daß er immer weniger Tiere vor die Flinte bekam. Die Agroindustrie bremste die Landvergiftung, ob Erichs wegen, ist unklar. Aber seitdem gibt es wieder mehr Gänse, Kraniche, Enten, königliche Raubvögel und eben Störche. Und Tausende von Fröschen. In allen Teichen quaken sie den ganzen Tag, und auf den Feuchtgebieten drumherum tummeln sich Maulwürfe und Mäuse.

Ein ausgewachsener Storch frißt pro Tag fast ein Kilo Nahrung. Weil er sein Futter im Schreiten sammelt, braucht er Platz und wenig Konkurrenz. In Linum hat er Platz. Das Naturschutzgebiet vor der Haustür, als solches erst seit den 80er Jahren ausgewiesen, beträgt heute 56 Hektar. Für den Anfang reicht das, sagen die Mitglieder der örtlichen Naturschutzgruppe — eine Nach-Wende- Organisation, aber sie wollen mehr. Im Februar hatte die Gruppe bei den zuständigen Kreisverwaltungen in Oranienburg und Neuruppin den Antrag gestellt, das gesamte Rhinluch zur Schutzzone zu erklären. Das sind 10.000 Hektar osthavelländische Landschaft. Die Kreistage unterstützen das Begehren. Seit einigen Tagen liegt der Antrag bei der Landesregierung in Potsdam vor.

Die Naturschutzgruppe hat sich viel vorgenommen. 18 Mitglieder hat sie. Kooperiert wird mit dem Berliner Landesverband. Sie wollen in Linum eine Naturschutzstation einrichten, ein alter Kahn am Kanal soll zum Rhinluchmuseum umgerüstet werden. Noch fehlt es an Geld, 25.000 DM hat sie aus dem Topf »Deutsche Umwelthilfe« beantragt. Auf lange Sicht sollen in der Naturschutzstation Zivildienstleistende und ABM-Kräfte die wissenschaftliche und pädagogische Betreuung des Linumer Luches übernehmen. Wanderkarten sollen erarbeitet, Info-Tafeln an den Wegrändern aufgestellt, über das Leben der Störche informiert und vor allem die Landwirte über die ökologische Bedeutung des Gebietes pädagogisch aufgeklärt werden. Der Niedergang der LPGs ist ihre Chance, ein sanfter Tourismus ihr Ziel. Die Störche, von den meisten der Einheimischen genauso selbstverständlich hingenommen, wie einst die Pestizide und Erich, sind heute ihr wichtigstes Kapital.

Sanfter Tourismus angestrebt

Denn Touristen kommen schon zu Hauf. An Pfingsten stauten sich Stoßstange an Stoßstange dicke Autos mit Berliner Kennzeichen. Mit Picknickkörben und Feldstechern fielen sie wie die Heuschrecken in Linum ein, alle wollten wiederkommen, wenn die Jungstörche das Fliegen üben. Den Tourismus möchte die Naturschutzgruppe nicht verjagen, aber kanalisieren, zur Rücksicht erziehen und zu einem kleinen Obulus ermuntern. In einem Hof im Ortszentrum hat die Gruppe am vergangenen Wochenende eine kleine Ausstellung über das Leben der Störche und das Treiben im Rhinluch eröffnet. Dort steht auch ein großes Fernrohr, fest eingestellt auf die Bewohner des Kirchdaches. Am Abend wird es eng im Horst. Mutter Storch breitet ihre Flügel über die Jungen aus, Nachtruhe ist angesagt, für Vater Storch ist kein Platz mehr. Klappernd verabschiedet er sich und segelt zum Übernachten auf den Strohwitwerbaum 100 Meter weiter. Dort warten schon müde Kollegen, ein Schwätzchen ist angesagt, dann fällt die Nacht. »Müde bin ich, geh zur Ruh« — das weltbekannte Schlaflied wurde von der Linumerin Luise Henssel 1815 im Vorgriff auf den tierischen Frieden von heute gedichtet. Anita Kugler