Nichts ist krumm, alles ist falsch

Günter Krämer inszeniert „Der jüngste Tag“ von Horváth  ■ Von Gerhard Preußer

Die Bühne stürzt auf uns zu. Schräg steht eine Wand in den Zuschauerraum hinein, schwarz schiebt sich eine steile schiefe Ebene nach vorn. Hinten glänzt in klaren Farben ein Rechteck, mal rot, mal blau, mal gelb. Wer auf diese Kohlenrutsche geworfen wird, den zieht's nach unten. Mühsam ist jede Bewegung, die diesem Sog entgegenwirken will. Nichts ist krumm in dieser Welt, und doch ist alles falsch. Wer steht schief? Der Mensch zur Welt oder die Welt zum Menschen?

In diesen abstrakten, bedeutungsvoll verzerrten Raum kommen zwei Gnome aus der alpenländischen Folklore: der Waldarbeiter und die Dorftratsche. Sie erzählen uns die Vorgeschichte vom braven Bahnhofsvorstand Hudetz, der unglücklich verheiratet ist mit einer dreizehn Jahre älteren Frau, und von Anna, der unschuldigen Wirtstochter, die mit einem Fleischhauer von auswärts verlobt ist. Dann kommen die beiden falschen Paare auf die Bühne, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

Martin Reinke als Hudetz ist in Günter Krämers Inszenierung kein junger naiver Stenz und Maria Happel als Anna keine verführerische Dorfschöne. Beide sind eigentlich plumpe Randfiguren, die nicht wissen, was sie tun. Hudetz: ein früh verfetteter, schwitzender Selbstbemitleider. Anna: ein dickes Kind voll unbeherrschter Energie. Sie hüpft auf einem Bein, schlägt einen Purzelbaum, dreht Frau Hudetz eine Nase und gibt aus Übermut, unverstandener Zuneigung und kecker Bosheit dem behäbigen Bär Hudetz einen Kuß. Und da ist's schon geschehen: der Eilzug rast vorbei, das Signal ist nicht gegeben, die Weiche nicht gestellt, die Katastrophe da.

Wer ist schuld? Hudetz, weil er das Signal vergaß, Anna, weil sie ihn küßte, seine Frau wegen ihrer Eifersucht, die Leute wegen ihrer intoleranten Klatscherei, die Bahnverwaltung wegen des Personalabbaus? Horváth konstruiert seine Krimihandlung so, daß sie auf mehr verweist als nur auf irdische Gerechtigkeit. Hudetz wird freigesprochen, weil Anna zu ihm hält, und dann bringt er sie um, er weiß selbst nicht wie. Nun heißt die Frage anders: Was ist Schuld denn überhaupt? Hudetz, der Enkel Woyzecks, sieht nur Kausalfaktoren, die sein Handeln lenkten. Aus dem Jenseits sprechen seine Opfer zu ihm, und mit dem Merkspruch, „Die Hauptsache ist, daß man sich nicht selber verurteilt oder freispricht“, unterwirft er sich der Justiz.

Krämer inszeniert dieses metaphysische Finale nüchtern, verfremdet durch einen surrealen Perspektiventrick. Die Bühnenschräge, auf der die Erdenmenschen mühsam gerade stehen, wird für die Toten aus der überirdischen Welt zur Senkrechten. Aus unserer Sicht liegt der Tisch, an dem man dort droben Karten spielt, am Boden, sub specie aeternitatis aber steht er. Wir sehen von unten in den Himmel und können nur die Schuhsohlen der strengen Engel sehen.

Die fromme Verklärung der Einsicht des bußfertigen Mörders fehlt. Kein säuselnder Wind, der klingt wie Posaunen des jüngsten Gerichts (so die Regieanweisung Horváths), kein Sturm, der vom Paradies her kommt. Horváths Schluß bleibt so empörend, wie er ist. Ein Mensch, der sich selbst nicht kennt, gibt auf. Die moralische Autonomie des Individuums wird abgegeben. Was Schuld ist, sollen andere entscheiden. Der Prozeß im Jenseits ist zwar vertagt, doch erstmal nimmt die irdische Gerechtigkeit ihren Lauf.

Die kritische Distanz, aus der die Inszenierung Horváths apokalyptisches Legendenspiel betrachtet, wird durch einen Engriff Krämers schon ganz am Anfang plakativ verdeutlicht. Noch vor der ersten Szene werden Filmausschnitte vom Einmarsch Hitlers in Österreich gezeigt. Das war am 13.März 1938, ein halbes Jahr nach der Uraufführung von Horváths Stück. Das war der reale jüngste Tag, auf den die historische Entwicklung zulief.

Krämers Regiestil hat auch diesmal eine fast didaktische Klarheit. Alle Figuren sind scharf umrissen, alle Handlungen sind bühnenfüllend vergrößert. Die Inszenierung ist so besetzt, daß die Eigenart jedes Schauspielers im Konzept aufgeht. Grete Wurms kleine Statur wird genutzt, um aus Frau Lehmgruber eine giftgrüne Zwergin, einen Rumpelstilz des verleumderischen Dorfgeschwätzes zu machen. Toni Blankenheims gebeugter Rücken gibt dem demütig-ehrlichen Drogisten Alfons eine unauffällige Würde. Und Maria Happels in Köln nun schon bekannte Meckerlache gibt Anna die richtige Mischung aus Bösartigkeit und Lebensfreude.

Statt des Posaunenklangs des Himmelwinds wählt Krämer sich ein anderes akustisches Symbol. Am Ende summt die tote Anna uns aus dem Jenseits eine Jodlermelodie herüber, die auch schon vorher oft erklang — als Anna mit ihrem Verlobten auftrat, als Hudetz freigesprochen zurückkam in das Dorf und als er sich vor dem Mord sanft neben Anna legte, immer sangen und summten sie diesen sentimentalen Alpenkitsch. Jodeln statt Metaphysik.

Ödön von Horváth: Der jüngste Tag , Regie: Günter Krämer. Bühne und Kostüme: Gottfried Pilz. Mit Martin Reinke, Susanne Barth, Maria Happel. Kölner Schauspiel. Koproduktion mit den Wiener Festwochen. Weitere Vorstellungen: 12., 14., 18.Juni