Der Kontrast von gestern zu heute

John Dew inszeniert Mozarts „Figaro“ in Leipzig  ■ Von Frieder Reininghaus

Zuvorderst ist die hinreißende Musik zu rühmen: Lothar Zagrosek und das Gewandhausorchester legten eine Figaro-Ouvertüre vor, daß man den Atem anhalten mußte. Trotz großem Apparat für das riesige Leipziger Opernhaus schwirrte das Brio aus, daß es eine helle Freude war. Überhaupt sollte diese Mozart-Produktion den lichtesten Kontrapunkt zur depressiven Stimmung in der Stadt setzen. Kein Lehrstück mehr also über das Gesellschaftliche im späten Feudalabsolutismus, sondern Entertainment für heute. John Dew kredenzte es mit jener beglückenden Leichtfertigkeit, die seinen Aufstieg als Regisseur begleitete: fast eine Boulevardkomödie über die erotischen Begierden, die Intrigen um Susanna.

In postmoderner Architektur präsentiert Bühnenbildner Heinz Balthes italienisches Mobiliar im neusten Design. Figaro sitzt auf dem zerwühlten Bett und ordert via BTX aus dem Möbelkatalog: cinque, dieci, venti. Susanna kommt herein — im Hostessen-Kostüm. Der Graf sieht aus wie Karl Lagerfeld, die Gräfin gleicht Pamela aus Dallas, Marcellina der Mutter des Regisseurs, „la sua madre“. Es wird ein Sonnenbad in den Beglückungen des maritimen Kapitalimus gewählt; die Insignien des Konsums sind allgegenwärtig. Auf dem sündhaft teuren Kanapee zur Linken Frau Gräfin mit dem Frauenmagazin und dem Champagnerglas; zur Rechten — auf dem entsprechenden Möbel — pooft der Herr Graf, läßt sich noch nicht einmal aus seiner Ruhe bringen, als Figaro ihm ankündigt, jetzt mit ihm ein Tänzchen zu wagen. Den Auftritten von Marcellina, Bartolo und Basilio ist unschwer anzumerken, daß sich John Dew Serien wie Golden Girls gründlich angesehen hat: da wird auch in der Leipziger Oper aus dem vollen Fernsehleben geschöpft.

Pamela Gräfin zu Sevilla tritt zu ihrer anrührenden Arie, zu Beginn des zweiten Aktes, vor den Schnurvorhang; das Ordinäre ihres Oufits verweist darauf, daß sie, die Rosina des Barbiere di Siviglia, gewöhnlicher Herkunft ist. Und wenn ihr Gatte sie der Abschweifung überführen will, dann kommt er mit einem DDR-Norm-Hauswerker-Kasten durch die Tür. Da lacht das Leipziger Publikum von Herzen. So überdauert der Figaro als Seifenoper — und doch überlebt Mozarts Musik die Vergegenwärtigung nicht nur erstaunlich gut. Sie lebt in ihr auf: Manche ihrer bedenklichen Unbedenklichkeiten wird zur Kenntlichkeit entstellt. Insbesondere der Gabriele Rossmanith, der nachtigallenartig quinkelierenden Susanne, ist die kesse Modernisierung außerordentlich vorteilhaft bekommen: Sie wirkt so typisch italienisch, obwohl sie aus Stuttgart kommt, wie der artistisch und stimmlich glänzende Robert Heimann, der jeder Mailänder Bar als Kellner zur Ehre gereichen würde — und der doch aus Boston stammt. Barbarina aber und ihre scharfen Kombattantinnen sind Leipziger Gewächs, obwohl sie wie aus London oder Brüssel wirken.

Daß die tiefere Bedeutung, die man gerne auch in dieser Mozart- Oper sieht, bei der ihr in Leipzig widerfahrenen Behandlung auf der Strecke bleibt, versteht sich von selbst; mit der Zuweisung höherer Weihe taten sich selbst die notorischen Weihrauchspender des Theaterbetriebs beim Figaro schwer. „Nu“, sagt einer in der Reihe vor mir zu einem bekannten, „was ein Kontrast von gestern zu heute.“ Der Mann hat den Punkt getroffen: eben dieser Kontrast ist intendiert. Gerade hier und heute.