Flüchtlings-Verschiebebahnhof Baku

Aserbaidschanische Flüchtlinge aus Armenien und Berg-Karabach sollen aus Baku in die umkämpfte Grenzregion zu Armenien abgeschoben werden/ Viele verloren ihr letztes Geld beim „Wohnungstausch“/ Soziale Diskriminierung  ■ Aus Baku Stefan Schaaf

Der Lenin-Prospekt in Aserbaidschans Hauptstadt Baku beginnt da, wo der steinerne Lenin vor dem Regierungssitz seit Jahrzehnten seine Hand über die Uferpromenade in Richtung Kaspisches Meer ausstreckt. Hier, auf dem weiträumigen Platz, demonstrierten im Januar 1990 eine Million Menschen gegen armenische Gebietsansprüche auf die zu Aserbaidschan gehörende, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnte Enklave Nagorny-Karabach. Kilometerlang und schnurgerade durchläuft der Lenin-Prospekt die Zweimillionenstadt, von den alten und schönen Stadtteilen am Meer zu den neuen Wohnsiedlungen aus bröckelndem Beton.

Vor einem dieser schmucklosen Neubauten am Stadtrand drängt sich eine Menschenmenge. Aufgebrachte Stimmen dringen durch den Verkehrslärm. Männer mit derben, sonnenverbrannten Gesichtern, einige Frauen in bäuerlicher Kleidung machen sie jedem Bakuer als Flüchtlinge erkenntlich. Es sind aserbaidschanische Flüchtlinge — aus Armenien und aus dem seit drei Jahren umstrittenen „Autonomen Gebiet Nagorny-Karabach“. Sie sind seit ihrer Massenflucht im November 1988 sozialer Sprengstoff für die Kaukasusrepublik. 90.000 der mehr als 200.000 aus Armenien Geflohenen ließen sich damals in der aserbaidschanischen Hauptstadt nieder. Ende Mai hat die Bakuer Stadtverwaltung mit einer fragwürdigen Anordnung erneut Feuer an die Lunte gelegt: Mehrere tausend Flüchtlingsfamilien sollen Baku verlassen und aufs Land umgesiedelt werden.

Von seinem Büro im Erdgeschoß dieses Gebäudes versucht Niftaly Codshayew, Vorsitzender des „Hilfskomitees für Karabach- Flüchtlinge“, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Hektisch bedient er mehrere Telefone. Seinen Mitarbeitern gelingt es nicht, die Tür zum Büro während des Gesprächs geschlossen zu halten. Immer wieder drängen sich einzelne herein. Einer ergreift das Wort: „Als wir 1988 aus Armenien vertrieben wurden, sind wir zunächst nach Karabach, aber auf Druck der aserbaidschanischen Regierung mußten wir dann nach Baku. Wir haben alles verloren, und nun sollen wir auch noch Baku verlassen.“ Auch Codshayew wettert gegen die „Politbürokraten“, die es diesen Menschen nur schwer machten. Nachdem man die Flüchtlinge aus Karabach nach Baku gebracht hatte, „hat uns die Regierung der Republik keinerlei Hilfe geleistet, Wohnungen und Arbeit fanden sie zuerst nur durch Vermittlung von Bekannten“. Viele waren obdachlos.

Doch dann wurde offiziell zugestanden, daß sie ihre ehemaligen Häuser in Armenien per Vertrag mit den Wohnungen von in Baku ansässigen Armeniern tauschen könnten, die ihrerseits damals aus Angst vor weiteren Progromen Baku zu Tausenden verließen. Viele Flüchtlinge bezahlten Geld für den Wohnungstausch. 5.000 aserbaidschanische Flüchtlingsfamilien fanden durch diese pragmatische Regelung, die angesichts der vorangegangenen gewalttätigen Auseinandersetzungen der beiden Völker überraschen mag, eine neue Bleibe in der aserbaidschanischen Hauptstadt.

Ein Flüchtling beklagt die Situation in Baku: „Jetzt ist eine soziale Unterklasse in der Stadt entstanden. Diese Menschen, die alles in Armenien zurücklassen mußten, die alles verloren haben, werden verachtet.“ Vielen der Vertriebenen fehlen auch die erforderlichen Dokumente, um staatliche Leistungen wie Bezugsscheine für Lebensmittel zu erhalten. Anderen geht es noch schlechter: ein aserbaidschanischer Journalist erzählt, daß er in dem Ort Agdam Flüchtlinge antraf, die seit drei Jahren Pferdeställe mit den Tieren teilen. In diesem Zeitraum seien dort von 23 Kindern elf gestorben.

Nun werde, so jener Flüchtling, durch die Umsiedlungsanordnung der Bakuer Stadtverwaltung ein neuer Konflikt zwischen den Flüchtlingen und den ansässigen Bakuern geschaffen. Die Behörden in Baku haben sich ausgedacht, daß man ein Dokument mit der Unterschrift des ehemaligen armenischen Besitzers vorweisen muß, um in den damals getauschten Wohnungen bleiben zu dürfen. Wer diese Papier nicht hat, wird umgesiedelt. Angesichts des eisernen Vorhangs zwischen beiden Republiken wird es sich auch nicht mehr beschaffen lassen. In den ersten vier Tagen der Aktion hat die Bakuer Polizei schon 403 Familien in den Ort Tshaikend gebracht. Codshayew versichert, daß dort bald 400 bis 500 Häuser für die Flüchtlinge fertig sein werden. Was er nicht erwähnt: aus dem Dorf, das die Armenier Getaschen nennen, sind die armenischen Bewohner nach einer besonders brutalen Militäraktion gegen „armenische Freischärler“ geflohen.

Die Flüchtlinge glauben, daß man sie letzten Endes in dem seit langem umkämpften Grenzstreifen zwischen Armenien und dem autonomen Gebiet Nagorny-Karabach ansiedeln wird. Warum die Umsiedlung gerade jetzt geschieht, weiß auch der Komiteevorsitzende Codshayew nicht: „Da müssen sie die Regierung fragen.“ Die naheliegende Antwort, daß man die Schwächsten als politische Manövriermasse in der gegenwärtig laufenden militärischen Kampagne zur Entwaffnung armenischer Nationalisten in Karabach mißbrauchen möchte, wird man dort kaum bekommen, genausowenig wie das Eingeständnis, daß die von den Kommunisten gestellte Regierung Aserbaidschans sich seit Beginn des Nationalitätenstreits mit Armenien viele politische Fehler und Versäumnisse vorwerfen lassen muß. Die fragwürdige Umsiedlungsaktion ist nur der jüngste davon.