INTERVIEW
: „Das ist der Union zu unberechenbar“

■ Der Politologe und Jurist Prof. Jürgen Seifert zur Debatte um einen Volksentscheid in der Frage des künftigen Regierungssitzes/ Volksbefragung als Alternative

taz: Herr Seifert, die Debatte um einen Volksentscheid in der Frage des zukünftigen Regierungssitzes gewinnt an Dynamik. Doch ein Volksentscheid wäre mit dem Grundgesetz in seiner derzeitigen Fassung gar nicht vereinbar.

Jürgen Seifert: Verfassungsrechtlich wäre ein Volksentscheid nur dann möglich, wenn man eine Änderung des Grundgesetzes mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat vornimmt.

Im Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es das Volk übt die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen aus. Könnten sich die Befürworter des Volksentscheids nicht auf diesen Artikel berufen?

Das ist umstritten. In diesem Falle würde mit Sicherheit das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Machbar wäre aber eine Volksbefragung, die nicht zwingend in der Verfassung verankert werden müßte. Die Volksbefragung ist, im Gegensatz zum Volksentscheid eine unverbindliche Willensbekundung der Bürger und Bürgerinnen, an die der Gesetzgeber rechtlich nicht gebunden ist. Faktisch hätte das Ergebnis einer solchen Befragung natürlich schon Einfluß auf die Entscheidung.

Sehen Sie denn eine politische Mehrheit für einen Volksentscheid in der Frage des Regierungssitzes? Damit würde doch die Tür geöffnet für eine prinzipielle Verschiebung hin zu mehr direkter Demokratie, eine Veränderung, die vor allem von der Union bislang strikt abgelehnt wird.

Auch wenn Justizminister Kinkel sich für einen Volksentscheid ausgesprochen hat, die FDP alleine würde nicht ausscheren und für eine Zweidrittelmehrheit braucht man ohnehin die CDU. Aber der Dissens in der Frage des Volksentscheids geht ja quer durch die Parteien. Auch in der SPD — ich nenne nur Ehmke — gibt es eisenharte Köpfe, die sagen „nur über meine Leiche“. Man muß andererseits aber auch sehen, daß viele Gegner direkter Demokratie ihre Auffassung verändern. Das ist ein wichtiger Prozeß, den Volksentscheid vorantreiben zu können.

Aber es ist doch ein glücklicher Umstand für die Befürworter des Volksentscheides, daß diese sonst eher abstrakt diskutierte Forderung jetzt an der Frage Bonn oder Berlin konkretisiert wird?

Die Strategie, diese Frage für eine verfassungspolitische Initiative zu handhaben, halte ich durchaus für sinnvoll. Man kann damit die Forderung nach plebiszitären Elementen mit konkretem Inhalt füllen. Wenn die Leute merken, hier könnten wir entscheiden, dann setzen sie sich überhaupt erst für eine solche Verfahrensregelung ein. Ich hielte es allerdings persönlich für sinnvoller, man würde in diesem konkreten Fall zu einer vernünftigen Lösung kommen. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll wäre, in dieser Frage eine solche Schlacht zu schlagen. Ich würde sagen, es ist besser, man entscheidet sich möglichst bald für Berlin.

Wie ist ihre Prognose: wird das Volk über den Regierungssitz entscheiden dürfen?

Ich habe doch erhebliche Bedenken, daß die CDU in dieser Frage nachgeben wird. Das ist ihr im Konkreten wie im Prinzipiellen zu unberechenbar. Interview: Matthias Geis