Plädoyer für ein »Drittes Kino«

■ Die lateinamerikanische Filmkultur leidet unter ökonomischen Zwängen

Schon einmal, in den siebziger Jahren, erlebte der lateinamerikanische Film eine Blütezeit. Jüngere, unabhängige Produktionen, die im Rahmen der lateinamerikanischen Filmtage in der Filmbühne am Steinplatz gezeigt wurden, versuchen, an die nichtkommerziellen Filme des »Dritten Kinos« wieder anzuknüpfen. VonAnke Levecke.

Zur großen Gegenbewegung zum Kommerzkino kam es 1962. In Brasilien entstand um den Regisseur Glauber Rocha das »Cinema novo«. Man griff auf nationale Traditionen zurück, um ein spezifisch brasilianisches, volkstümliches und gesellschaftskritisches Kino zu entwickeln, eine wirtschaftlich und ästhetisch eigenständige Filmkultur sollte aufgebaut werden. Als Meilenstein der Filmgeschichte Lateinamerikas gilt der 1968 entstandene dreiteilige Dokumentarfilm La hora de los Hornos (Die Stunde der Hochöfen) des Argentiniers Fernando Solanas. Dieser Film liefert die erste analytische Auseinandersetzung mit der Situation Lateinamerikas als der eines Kontinents der Unterentwicklung, der Ausbeutung und der krassen sozialen Gegensätze.

Aber nicht nur in Argentinien und Brasilien ist zu dieser Zeit ein Aufschwung der Filmkunst zu verzeichnen gewesen. Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern entwickelten sich Gegenströmungen zum Kommerzkino, es wurden vermehrt Dokumentarfilme politischen Inhalts gedreht, in Uruguay wurde 1969 die »Kinemathek der dritten Welt« gegründet. Es versteht sich von selbst, daß in dieser Zeit auch in einigen Schriften verankert wurde, wie Kino zu sein hat. Die Autoren des Films »La hora de los hornos«, Fernando Solanas und Octavio Getino, plädierten für ein »Drittes Kino«. Für sie ist das »Erste Kino« das des Konsums der präfabrizierten Formen, das der Kontrolle durch die mächtigen Konzerne. Das »Zweite Kino«, der individuell konzipierte Autorenfilm, kommt schon besser weg, da er den Versuch einer »Kulturellen Dekolonisation« unternimmt, doch denkt er noch zuviel über sich selber nach und ist bloß für ein elitäres Publikum gedacht. Dagegen ist das »Dritte Kino ein Instrument, um unsere Wahrheit mitzuteilen, gründlich, objektiv, subversiv, das[...] den unmündigen und unterdrückten Menschen befreien will«. Doch die Blütezeit — 1968 bis 1973 — des lateinamerikanischen Kinos hatte mit den Umwälzungen der politischen Verhältnisse ein Ende. Die folgenden lateinamerikanischen Militärregimes schoben der Produktion unabhängiger Filme einen Riegel vor, denn die Filme könnten subversives Gedankengut transportieren. Viele Regisseure mußten ins Exil gehen, so auch Glauber Rocha und Fernando Solanas.

Im Rahmen der Lateinamerikatage 1991 wurden fünf jüngere Filme aus Lateinamerika vorgestellt, darunter Que vivan los Crotos (Die Vagabunden, sie leben hoch), der 1990 den ersten Preis beim Dokumentarfilm- Festival in Havanna/Kuba erhielt. Die argentinische Regisseurin Ane Poliak fühlt sich mit der Tradition des lateinamerikanischen Films verbunden. Hier in Europa habe sie endlich die Möglichkeit, Filme aus ihrer Heimat zu sehen, eher kritische Filme werden in Lateinamerika nämlich erst gar nicht gezeigt. Da wieder anzuknüpfen, wo einst Leute wie Solanas aufhören mußten, sei kaum möglich, da das Kino in Argentinien vom Kommerz bestimmt sei. Die einzige Möglichkeit, einen nichtkommerziellen Film zu drehen, läge in der Hoffnung auf externe Finanzierung. Auf Kuba wurde eine Stiftung zur Förderung lateinamerikanischer Filme gegründet, diese steckt mittlerweile aber in finanziellen Schwierigkeiten. Das spanische Fernsehen hat bisher — wohl als eine Art Gewissensberuhigung — Gelder für lateinamerikanische Filme bewilligt. So manche Inhalte mögen den Spaniern dabei wohl auch nicht so recht gewesen sein, doch meint Ane Poliak, daß das spanische Fernsehen schon durch die Auswahl der eingereichten Vorschläge eine ihm genehme Richtung einschlagen konnte. Der einzige Lichtblick am sonst trüben Geldhorizont scheint da noch der englische Fernsehkanal »Chanel Four« zu sein, der eine Unterabteilung namens »Sur« gründete, die Gelder für lateinamerikanische Filme zur Verfügung stellt.

Wo kein politisches Kino gemacht werden kann, erübrigt sich die Filmzensur von selbst. Ane Poliak kennt kein Beispiel einer direkten, staatlichen Filmzensur seit dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien. »Die Filmzensur läuft über ökonomische Zwänge.« Doch sind in den letzten Jahren einige Regisseure von Ultrarechten oder Todesschwadronen bedroht oder angegriffen worden. Bei der Aufführung eines Dokumentarfilms über das Verschwinden von mehr als 10.000 Menschen während der letzten Militärregierung sei es zu Bombenattentaten gekommen, der Regisseur massiv bedroht worden.

Fernando Solanas hat, nachdem er aus dem Exil zurückkam, noch mehrere Filme gedreht, darunter den in Europa sehr erfolgreichen Kassenschlager El Sur. Während des letzten Wahlkampfs in Argentinien unterstützte er den Kandidaten Carlos Menen. Nach dessen Wahl beschuldigte er Menen jedoch in einem Leitartikel, er habe das argentinische Volk betrogen. Die Äußerung dieser Meinung brachten ihm acht Schüsse ins Bein ein.

Im Rahmen der lateinamerikanischen Filmtage heute um 16 Uhr: Eine Straße mit dem Namen Brasilien, um 18 Uhr: Que vivan los crotos (die Regisseurin wird anwesend sein) in der Filmbühne am Steinplatz. Weitere lateinamerikanische Filme sind in diesem Monat im KOB zu sehen. (Siehe auch Tagesprogramm!)