Fragwürdige Helden

Eröffnung des Holland-Festivals mit Mozart und Monteverdi  ■ Von Frieder Reininghaus

Europa wächst zusammen. Bemerkbarer als durch währungspolitische Maßnahmen, Verteidigungsverbund, Fahndungskoordination und Sondermülltourismus mit Mozart. Seine Musik sorgt derzeit für mehr oder minder gepflegte Langeweile von Bergen bis Bari, von Oostende bis Odessa. In Wien und Salzburg ohnedies.

Nun hat's auch Amsterdam erwischt. Als könnten Festspiele derzeit gar nicht anders, startete das Holland Festival mit Mozart. Festspielmäßig (und wie im letzten Jahr die Salzburger Festspiele) mit Idomeneo.

Am Pult Frans Brüggen, der sich einst als Barockblockflöter einen Namen machte. Aber die Musik kommt unter seinen Händen nicht recht in die Gänge. Das von Mozart komponierte Furore, das die Sturm- und Wettermusik von Willibald Glucks vorbildlicher Iphigenie in den Schatten stellen sollte, bleibt in halbherzigen Anläufen stecken. Die klaren Konturen der Partitur — nur zu oft verwackelt. Und eine Gestaltung im großen, der Umriß der Architektur, wird nicht deutlich. Dabei macht der Chor, wenn er nur loslegen darf, seine Sache gut; Annegreer Stumphius und Laurence Dale singen sich als Ilia und Idamante liebreizend an. Das Nederlands Philharmonisch Orkest verfügt über sicher intonierende und präzise einsetzende Bläser, die freilich durch die diffuse Zeichengebung eher irritiert als animiert wirken. Der Theatergott mag wissen, warum da der ausgeblasene Flötist zum Kapellmeister gemacht wurde.

Schwarz steht der große Bogen. Unter ihm, beim blauen Oval, treibt es Kronprinz Idamante heftig mit Ilia, der aus dem Trojanischen Krieg als Sklavin nach Kreta gebrachten Prinzessin aus dem Hause des Priamos. Das deutet an, was der Königssohn im Sinn gehabt haben mag: auch die rasche Lust. Singen tut er freilich davon, daß er der um den Untergang ihres Volkes trauernden jungen Frau die Freiheit schenken will. Und er wirbt um ihr Herz, indem er ihre Schönheit preist. Der Regisseur Peter Mussbach läßt, im strikten Gegensatz zu Giambattista Varescos Worten, Idamante eine Fessel um Ilia legen: Freiheit gibt es für Frauen in dieser Lage nur rhetorisch.

Auch im übrigen stellt die Idomeneo-Inszenierung im Amsterdamer Muziektheater alles, was Libretto und Musik allmählich erst entwickeln, als von Anfang an gegeben hin. Drei ruhige, großgliedrige Bilder, die von Nina Ritter entworfen wurden (das Oval deklinierte sie zuletzt zusammen mit Jürgen Gosch anläßlich von Cosi fan tutte in Bremen durch). Das blaue Oval, dieses Loch in der öden Landschaft, beziffert das abgründige Meer, aus dem der schiffbrüchige König Idomeneo sich an Land schleudert.

Neptuns Dreizack bringt der König, der sich durch ein fatales Gelübde aus des Sturmes Wellen retten kann, wie eine Trophäe mit. Auch das kehrt die Story um: denn Poseidon nimmt ja an Idomeneo für den Fall des ihm nahestehenden Troja Rache, wird keineswegs überlistet oder besiegt. Schließlich aber, wenn der Sohn Idamante diese Waffe in die Hand bekommt, um das schreckliche Ungeheuer zu töten, das Kreta heimsucht, weil der König den Schwur nicht einlöst, den ersten Menschen, der ihm nach Errettung aus den Wogen über den Weg läuft, als Schlachtopfer darzubringen (und dieser erste war eben unglücklicherweise Idamante), dann macht das dem Meergott entwendete Symbol als Werkzeug menschlichen Handelns einen gewissen Sinn. Groß steht dann der Schatten des scharfen Dreizacks an der Rückwand der Bühne: Wie ein Denkmal prangt er auf einer der schwarzen Säulen der Panzersperrenlandschaft, die zur glücklichen Auflösung der Geschichte das Theater schmückt.

Darüber, wie sinnvoll die zu den Motiven der göttlichen und menschlichen Macht gesellten Säulenhaine, wie angemessen das von seinem König im Stadium der kollektiven Halbnacktheit überraschte Kreter-Volk und dergleichen Bild-Transpositionen sind, ließe sich trefflich streiten, wenn einem dazu nicht durch den schleppenden Fortgang des Unternehmens Idomeneo die Laune verginge. Daß es insgesamt in einer kaum aufgehellten Düsternis stattfindet, ist konsequent. Der Verdacht verdichtet sich, daß Mussbach mit diesem Idomeneo auch nicht viel mehr anfangen konnte als Nikolaus Lehnhoff letztes Jahr in Salzburg: Das Stück wurde eben als dunkel und erratisch hingestellt. Ein nicht unerheblicher Teil des Festspielpublikums nimmt das als nötigend wahr; manche aber halten die auf solche Weise lang und breit ausgestellte Not für die wahre Tugend.

Nicht minder geschichtsbeladen und aus fernen Zeiten herübergrüßend die Geschichte von Tankred und Clorinda, die Claudio Monteverdi zur Vorlage eines Kampfberichts, eines auskomponierten Rittergefechts wählte. Dieser Tankred war Nachfolger des Robert Guiscard, der Mitte des 11. Jahrhunderts mit einem Trupp Normannen in Unteritalien einfiel, den oströmischen Kaiser hinausprügelte und den von HeinrichIV. in der Engelsburg festgesetzten Papst befeite. Tankred war einer der führenden Männer beim ersten „Kreuzzug“, der Held bei der Eroberung Jerusalems. Torquato Tasso setzte ihm 1575 mit seinem Jerusalem-Epos ein literarisches Denkmal (später griff Voltaire den Stoff auf, dessen Tankred-Tragödie von Goethe ins Deutsche gebracht und zur Vorlage für wenigstens ein halbes Dutzend Opern wurde, darunter eine von Rossini).

Das Werk Il combattimento di Tancredi e Clorinda, das Monteverdi beim Senator Mocenio im Jahr 1624 uraufführte, geht also auf den genialischen Tasso zurück. Pierre Audi, der Direktor des Amsterdamer Opernhauses, brachte es jetzt mit einer Ausstattung heraus, die Chloe Obolensky nach Entwürfen und in Zusammenarbeit mit Jannis Kounellis entwickelte.Die Amsterdam Studios an der Peripherie der Stadt präsentierten eine große Sandfläche mit einem einsamen Gesteinsbrocken — das rechte Areal für einen Ritterkampf. Dahinter 72 auf Veranlassung von Kounellis zusammengeschweißte Metallplatten; auf diese Riesenfläche wurden Teile alter Türfutter als Muster senkrechter Linien aufgebracht. Vor dem Turnierplatz die Schrannen (nur für die Königin und ihre Begleiter gab's Kissen — ein kleines Privileg muß sie ja noch haben). Den Bericht vom veritablen Schwertkampf gibt der „Testo“, der singende Erzähler — und nur gelegentlich unterbrechen ihn die beiden aufeinander eindringenden Geharnischten.

Daß die Oper gleich an ihren Anfängen die Fragwürdigkeit des Heldischen thematisierte, dessen wird der staunende Beobachter gewahr. Der vorschnelle Haudegen Tankred, der ohne Prüfung der Umstände einer fremden Reitergestalt folgt und mit dieser den Kampf auf Leben und Tod eröffnet, muß schließlich erkennen, daß er eine Frau niederrang, totschlug: die schöne Clorinda. Seine Reue kommt zu spät. Sie aber vergibt ihm mit dem letzen Hauch — „io vadi in pace“.

Das Stückchen epischen Musiktheaters geriet exzellent. Ebenso die zuvor erstmals gegebene Kurz-Oper Gassir von Theo Loevendie: auch die ein Bericht vom Helden, der siegreich aus der Schlacht heimkehrt und dem die Hinwendung zu kulturellem Leben nicht recht gelingen will. Ein Märchen aus unbestimmter Zeit mit differenziert ausgestatteter Musik. Das ASKO-Ensemble erwies sich unter Leitung von David Porcelijn für Monteverdi wie für Loevendies Stück als gleichermaßen kompetent. So erhielt das Holland Festival nach der eher matten Idomeneo-Ouvertüre doch gleich zu Beginn eine Attraktion, die übrigens leicht exportierbar wäre: Sowohl Gassir wie Il combattimento würde das Musiktheater-Publikum gewiß auch in Deutschland stürmisch begrüßen.