Engholm interpretiert Grundgesetz

SPD-Chef hält Blauhelm-Einsätze auch ohne Grundgesetzänderungen für möglich und sorgt damit für Verwirrung/ Bremer Beschluß bindet Zustimmung der SPD an eine Verfassungsänderung  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

Knapp zwei Wochen nach dem Bremer Parteitag sorgt der neue SPD- Vorsitzende Engholm mit einer eigenwilligen Interpretation des Blauhelm-Beschlusses für Irritation in seiner Partei. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident hält einen Einsatz deutscher Soldaten bei friedenssichernden Aktionen der UNO bereits jetzt im Rahmen des Grundgesetzes für möglich.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Vogel lehnte es ab, die Engholm- Äußerung zu interpretieren. Vogel unterstrich aber, daß für ihn ein Blauhelm-Einsatz nur nach vorheriger Grundgesetzänderung in Frage komme. Die bayerische Landesvorsitzende Renate Schmidt, die auf dem Parteitag vehement gegen jede deutsche Beteiligung an Out-of-area- Einsätzen gekämpft hatte, interpretierte die Äußerungen ihres Vorsitzenden wohlwollend: „Der Parteitagsbeschluß steht.“

Engholm hatte erklärt, die SPD werde in der Verfassungskommission des Bundestags ihre durch den Bremer Parteitag festgelegte Bereitschaft deutlich machen, nur solch eine Grundgesetzänderung mitzutragen, die den nichtkriegerischen Einsatz deutscher Soldaten unter UNO- Flagge festschreibt. Voraussichtlich werde dies aber der Regierungskoalition nicht ausreichen. Sie wolle die Verfassung auch in Richtung eines militärischen Einsatzes deutscher Soldaten außerhalb des Nato- Bereichs öffnen. Eine Verfassungsänderung werde dann nicht zustandekommen, sagte Engholm. Die Bundesrepublik könne sich jedoch in einem konkreten Fall der Bitte der UNO, Deutschland möge Soldaten zur Verfügung stellen, nicht entziehen. Dies sei seiner Meinung nach auch durch das Grundgesetz gedeckt, betonte Engholm.

Mit dieser Einschätzung liegt Engholm durchaus im Mainstream bundesdeutscher Verfassungsinterpretation. Doch dürfte der Parteichef mit seinen jüngsten Äußerungen diejenigen in der SPD düpieren, die sich in der brisanten Frage erst gar nicht auf die Ebene der Verfassungsinterpretation einlassen wollen. Sie knüpfen die Möglichkeit bundesdeutscher Blauhelm-Beteiligung zwingend an eine Grundgesetzänderung, weil andernfalls die Bundesregierung versucht sein könnte, die Blauhelm- Konzession der SPD als Einstieg für eine noch weiterreichende Grundgesetzinterpretation zu nutzen. Demgegenüber würde eine Grundgesetzänderung für Blauhelme zugleich eine restriktive Präzisierung des betreffenden Verfassungsartikels beinhalten, und so allen weitergehenden Interpretationen einen Riegel vorschieben. Genau darin lag der Sinn des Bremer Parteitagsbeschlusses.

Ob mit Engholms Position nicht leichtfertig die Einflußnahme der SPD beschränkt wird und die Notwendigkeit für die Regierung entfällt, überhaupt mit den Sozialdemokraten um eine Zustimmung für eine Verfassungsänderung zu verhandeln, ließ Engholm offen.

Parteisprecherin Sonntag räumte gestern immerhin ein, Engholms „Appell zum Nachdenken“ könne eine „Schwächung der Position“ der SPD bedeuten und deren „Strategie gegenüber der Union ins Wanken bringen“. Dennoch müsse man darüber nachdenken, wie sich die SPD verhalten werde, falls die UNO bereits vor einer möglichen Grundgesetzänderung die Bundesrepublik um Beteiligung an Blauhelm-Einsätzen bitte. Die SPD könne eine solche Bitte nicht mit dem Argument verweigern, daß die entsprechende Grundgesetzänderung noch nicht vollzogen sei.