Boris Jelzin: Ein „Samoswanjez“

■ Die Kritik an den Partei-Zaren belebt eine alte russische Tradition

Einmal in seinem Leben hat sich der blütenweiße Boris ganz mit Ruß beschmiert: Als Student fuhr er mit seiner Volleyballmannschaft aus Swerdlowsk zu einem Match nach Tbilissi in den Kaukasus. Bei einer Zwischenstation wurde er mit der Lebensmittelbeschaffung beauftragt. Jelzin verpaßte den Zug, kam aber zwölf Stunden später, mitten in der Nacht, schwarzglänzend und zu Tode erschöpft mit dem Proviant in Tbilissi an. Er war einfach auf den nächsten Zug aufgesprungen und hatte sich an das Dach des Waggons hinter der Lokomotive geklammert. Der russische Journalist, der diese Geschichte berichtete, entwickelte daraus eine symbolische Parallele: Als Jelzin vom Amt des Moskauer Parteichefs entfernt wurde, verpaßte er auch für einige Zeit den politischen Zug. Nur war er diesmal mit Absicht hinuntergestoßen und nicht zufällig mit Ruß überschüttet worden.

Mehrmals tauchen in der russischen Geschichte Gestalten auf, die man als „Samoswajez“ bezeichnet. Gemeint sind jene alternativen — und angeblich einzig rechtmäßigen — Thronprätendenten, mit denen aufständische Bewegungen seit 1600 die Öffentlichkeit konfrontieren. Wörtlich bedeutet „Samoswanjez“ der „Selbsternannte“. Mit diesem Phänomen wurde Boris Jelzin in einem großen Artikel im Februar 1991 von dem Publizisten V. Tretjakow identifiziert. Tretjakow betonte, daß die „Samoswanzy“ — ursprünglich schlichte Menschen — jeweils von einer Zorneswelle des betrogenen Volkes emporgetragen und letztlich zur Konkurrenz mit der höchsten Macht, dem Zaren persönlich, gezwungen wurden. — Nun, darauf weist Tretjakow ausdrücklich hin, ist Boris Jelzin von seinem Werdegang her keineswegs mit der Lieblingsfigur Lenins zu vergleichen: der Köchin, die schließlich das Zepter im Staate schwingt. Zwar waren seine Eltern Bauern, die in den dreißiger Jahren von dem durch die Kollektivierung erzeugten Hunger auf dem Lande buchstäblich wegliefen — tatsächlich wuchs der Junge jahrelang in einer Bauarbeiterarbeiterbaracke auf —, doch seine eigene Karriere — vom Bauingenieur zum Chef eines riesigen Wohnungsbaukombinats und schließlich zum ersten Parteisekretär eines der größten Schwerindustriezentren des Landes — mußte ihn (den sowjetischen Traditionen gemäß) auf einen noch höheren Aufstieg vorbereitet haben.

Zum „Samoswanjez“, zum Vertreter der politischen Außenseiter, konnte er erst werden, nachdem der „Zar“ und dessen Suite ihn vom Zug gestürzt und mit Ruß überschüttet hatten. Eine solche Erniedrigung widerfuhr ihm mehr als einmal. Jedesmal war sie eine gesetzmäßige Folge seines Charakters — wie die jeweils anschließend einsetzende Welle der Erhöhung Boris Nikolajewitschs durch die „kleinen Leute“ auf den russischen Straßen. Die schwärmten für ihn — nein, nicht aus der Tradition des 16. Jahrhunderts heraus —, sondern weil sie sich, zur Überraschung der Weltgemeinschaft, schließlich auch als Menschen des 20. Jahrhunderts erwiesen.

Barbara Kerneck-Samson

Aus: Boris Jelzin. Ein Porträt. München, 1991.