Der Senator vermißte provokante Thesen

■ Umwelt-Senator Hassemer unterrichtet Politologie-Studenten in »Großstadtpolitik«/ Ein voller Raum mit zahmen Hirnen

Dahlem. Als Christian Bahr, Politologie-Student im 10. Semester, sein Referat zum Thema Umweltpolitik beendet hatte, fehlte eins: freche Thesen, die Volker Hassemer, Senator für Umwelt, provozieren könnten. An diesem Morgen kann sich der CDU-Politiker im Otto-Suhr-Institut ungestört auf seinem Lehrstuhl zurücklehnen.

Der Mann in Jackett und Krawatte, der seit Semsterbeginn jeden Freitag um acht Uhr dreißig in die Uni geht — wenn nichts dazwischen kommt — und sein Seminar zum Thema »Großstadtpolitik« veranstaltet, urteilt, daß Student Bahr den Schwerpunkt seines Referates zu Recht auf den Ostteil der Stadt gelegt habe, doch, fährt der Senator fort, »nun würde ich gerne hören, was Sie machen würden, wenn Sie in der Verantwortung wären?«

Ein Student will eine Umweltabgabe einführen, ein anderer der 35 Kommilitonen ärgert sich, »daß der Staat wiedergutmachen soll, was die Wirtschaft verbrochen hat«. Ein dritter, dessen Fahrradlenker-Tasche auf dem Tisch liegt, will »durchgreifen«, unter anderem bei solchen Menschen, die ihre Trabis »in Seen versenken«. Eine Frau, die im Seminarraum des Institutes in der letzten Reihe sitzt, problematisiert die Finanzierung der Umweltschäden: »Mehr Geld aus Bonn führt zur Inflation, ohne dieses Geld kommt es jedoch zur Unruhe im Osten.« Ein Politologe, der sich bereits genauso wie der Senator kleidet — bis auf die weißen Turnschuhe —, schweigt während der gesamten zwei Stunden der Veranstaltung.

Wenn CDU-Senatoren heute in die Uni gehen, ist Harmonie angesagt. Nur ein einziges Mal kommt es zu Unmutsäußerungen — nein, nein, nicht gegen Hassemer. Der 26jährige Bahr behauptet, daß genügend Geld für den Bau einer Abwasserkanalisation in Friedrichshagen herausspringe, wenn man die Wasserpreise um eine Mark für einen Kubikmeter verteuern würde. Das Auditorium bleibt still. Als Bahr jedoch an die privatwirtschaftlich organisierte Wasserversorgung in England erinnert, wird es im Publikum laut. Eine kontroverse Diskussion entfacht sich aber auch hier nicht. Die StudentInnen geben sich mit dem Argument des Senators zufrieden, daß privatwirtschaftlich kalkulierte Gebühren das Bewußtsein im Umgang mit dem Naß fördern würden.

Als es auch dem Senator zu harmonisch wird, versucht er seinen Nachwuchs zu provozieren. Sauber würden wir die Stadt nicht mehr bekommen, meint er resigniert, wer eine Alpenveilchensituation erwarte, verstehe nicht, was unsere Zivilisation als Sud, als Basis für ihre Existenz fordern würde — »oder haben Sie Ideen?« Nein, gibt ein Mann in Kragenhemd und grauem Musterpullover zu. Vielleicht müsse man überlegen, wie man Leute dazu animieren könne, neue Konzepte zu erarbeiten. Doch wer soll zur Phantasie animiert werden, wenn nicht die Politologie-StudentInnen von heute, die einst PolitikerInnen von morgen sein wollen...

Daß die Auseinandersetzungen in der Uni selten Sinn haben, war vor zwei Jahren, als die Studenten der gesamten Republik den Aufstand probten, kein Geheimnis — »Die inhaltliche Debatte macht nur Sinn, wenn wir uns organisieren«, behauptet an der Wand des Seminarraums ein rot- schwarzes Graffiti aus vergangenen Zeiten.

»Keine Zensur der Phantasie« fordert ein anderes in Grün — doch den Spuren, die der »Unimut« hinterlassen hat, will keiner folgen. Da wundert es selbst Hassemer, daß in sein Seminar in der Regel zwischen 30 bis 50 Studis kommen. »Wenn ich Student wäre«, verrät er, »dann würde ich doch nicht am Freitag früh hier herkommen.« Dirk Wildt