Die Konstruktion des Alltags

■ Jean Prouvé — eine Ausstellung in Nancy

Er entwarf Fahrräder und Tankstellen, Schulmöbel und Sendetürme, Automobile, Tropenbehausungen, Universitätsbauten und einges mehr: Jean Prouvé, sein Leben lang zwischen Nancy und Paris pendelnder Konstrukteur und (zeitweiliger) Fabrikant seiner Entwürfe, dessen 90.Geburtstag die Stadt Nancy mit einer (zuvor im Centre Pompidou gezeigten) Retrospektive feiert.

Prouvé, der sich nach einer Schmiedelehre autodidaktisch zum Ingenieur und Architekten ausbildete, war — vor allen Patenten zu Tragwerken, Stabilisierungen und Verbindungen — zuerst Erfinder seines eigenes Berufes „Konstrukteur“, eines Berufs, „der vom Gesetz noch nicht anerkannt ist, den es aber unbedingt braucht in der Zeit, in der wir leben“, wie Le Corbusier im 'Modulor II‘ über seinen Freund Prouvé schrieb. Konstruieren, eben nicht bloß gestalten, auf dem Papier entwerfen, war das Spezifikum dieses Praktikers der Avantgarde. Für jedes Teil einer gestellten Aufgabe, sei es die Entwicklung einer Tankstelle oder eines Stuhles, galt es, das zur Verfügung stehende Material so zu bearbeiten, daß das Ergebnis ein möglichst stabiles, montagefreundliches, materialminimiertes und infolgedessen leichtes, aus Teilstücken zusammengesetztes Produkt war. Kein Wunder also, wenn Bauelemente dieser technisch-schönen Gegenstände immer wiederkehren, wenn Stützen weiträumiger Hallen aussehen, als wären sie vergrößerte Stuhlbeine und sich umgekehrt Außenwandbleche im Inneren von Räumen als Schreibtischseiten wiederfinden.

Materialien und Bearbeitungsmöglichkeiten faszinierten Prouvé zeitlebens; weniger natürliche Stoffe wie Holz (seine wesentlichen Holzmöbel entstanden denn auch aufgrund der Besatzungswirtschaft während der deutschen Okkupation Frankreichs), als industrielle Materialien, die ihm als Halbfabrikate zur Verfügung standen: Plexiglas und vor allem Blech, gleich ob Stahl oder Aluminium. Gegenüber dem Material schlechthin für die modernen Möbel der zwanziger Jahre, äußerte Prouvé sich jedoch ablehnend: „Die Verwendung gebogener Stahlrohre fand ich geistlos. Mich inspirierte das Stahlblech, abgekantet, gestanzt, gerippt, dann geschweißt.“ Blech also, gestanzt und gebogen, dem Kräfteverlauf der Zug- und Druckbelastungen entsprechend. Und nie verlor er den Aspekt der Materialminimierung aus dem Auge.

Bei einem einfachen Alltagsstuhl, das Gestell Blech, Sitz- und Rückenlehre Sperrholz, gelang es Prouvé, die Zahl der die Sitzfläche befestigenden Schrauben auf zwei zu reduzieren, indem er in den rückseitigen Blechen je eine winzige Kerbe einstanzte, die die Kante der Sitzfläche aufnahm: verbinden durch weglassen. Wenn Prouvé gelegentlich, seiner experimentierfreudigen und daher dogmenfeindlichen Neigung enzsprechend, doch Stahlrohr verwandte, versuchte er, den Vorgang des Biegens noch im Endprodukt sichtbar zu lassen: An den Stellen, an denen das Stahlrohr gebogen wurde, bleiben Unebenheiten, vorspringende Stahlwülste zurück: die Dokumentation einer zum Stillstand gebrachten Bewegung.

Solche Details lassen sich in der Ausstellung in Nancy entdecken, die den Planungsvorgang im Atelier Prouvé exakt rekonstruiert. Und es sind diese Details, die Prouvés Arbeiten eigenartig zeitlos machen: Zwar ist, besonders bei den Möbeln, zumindest der ungefähre Zeitraum der Entwicklung auch ohne Texterläuterung festzustellen — verleugnet das Mobiliar der zwanziger Jahre doch Prouvés Begeisterung an den neuen Transportmitteln Auto und Flugzeug ebensowenig wie das der fünfziger Jahre die modischen Assymetrien —, aber die Details, ob Spannfedern, Spanngurte oder die auskragenden Tischstützen, formulieren eben auch konstruktiv nicht mehr zu verbessernde Lösungen, Perfektionen, die langfristig Gültigkeit beanspruchen können.

Vor allem aber zeigt die Ausstellung, wie diese Produkte entstanden: Bei Prouvé gab es nicht die genialische Skizze mit anschließender Ausarbeitung, sondern das Ausprobieren der Verfahren im Laboratorium. Das Zusammenspiel der Forderung nach jeweils adäquaten Lösungen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der standartisierten industriellen Fertigung führte zu einer enormen Formenvielfalt der Endprodukte, die doch Konstruktionsprinzipien und vorfabrizierte, gelegentlich austauschbare Elemente gemein hatten. Für Formalisierungen, etwa mit elementargeometrischen Mitteln, blieb da kein Raum: Der Konstrukteur wollte kein Konstruktivist sein.

Was in diesem privaten Laboratorium der Moderne zwischen 1924 (die ersten Möbel) und 1984 (dem Tod Prouvés) entstand, war für die Öffentlichkeit bestimmt: Verkehrs- und Kommunikationsarchitekturen, Bildungseinrichtungen, Serienhäuser gegen die enorme Wohnungsnot der Nachkriegsjahre, Mobiliar, das Kinder schon früh mit der technisierten Zivilisation vertraut machen sollte. 1954 entwickelte Prouvé sein Privathaus in Nancy als Kombination verschiedener Serienelemente seiner Fabrik, deren kommerzielle Leitung nichts mehr von Prouvé und nicht mehr von seiner Art integrativen Entwerfens und Produzierens wissen wollte. Sie schlug ihm statt dessen vor, er solle „Formen nach seinem Stil zeichnen“. Für den Konstrukteur war dieses Angebot unannehmbar, die Möbelentwicklung brach ab. Die Entwicklung neuer Tragesysteme und vor allem die neuer Fassadenelemente unter Verwendung der gerade aufkommenden Kunststoffe begann, industriell wurden zylindrische Tankstellen mit Polyesterfassade in Serie hergestellt.

Prouvé gelang das, wovon viele Baukünstler der Avantgarde träumten und schrieben: die Konstruktion des Alltags und ihre Verbesserung. Einige seiner Arbeiten wurden fast zu so etwas wie Synonymen der modernen Alltagskultur, die als anonyme Gegenstande etwa in Hergés Tim und Struppi in Tibet durcheinandergebracht werden. Einige dieser Tische, Stühle und Sessel sind mittlerweile auch außerhalb des Antiquitätenmarktes in Neuauflagen lieferbar, ein besseres Schicksal als das irgendwelcher „Möbelklassiker“, die als Versatzstücke vermeintlich modernen Bewußtseins herhalten müssen, wäre ihnen zu wünschen. Und die Firma Tecta, der Produzent dieser Gegenstände, hat eines kleines, aber gehaltvolles Prouvé-Archiv im eigenen Stuhlmuseum aufgebaut, ein Reisehinweis für die Zeit nach der Ausstellung. Während die Stadt Nancy dort auf ihren großen Sohn zurückblickt, vergammeln oberhalb des Zentrums die Wege, die zu Prouvés Privathaus führen. Jörg Stürzebecher

Die Retrospektive Jean Prouvé — Constructeur ist noch bis zum 30.Juni im Espace Berger-Levrault in Nancy zu sehen. Eine Broschüre mit Bildern und Ortsangaben der Gebäude Prouvés in Lothringen ist im Fremdenverkehrsbüro für 39 Francs erhältlich. Der Katalog der Ausstellung ist im französischen Buchhandel für 330 Francs erhältlich und kostet in der Bundesrepublik circa 110DM. Das Prouvé-Archiv im Stuhlmuseum Burg Beverungen an der Weser ist noch bis Ende Oktober mittwochs bis freitags von 15 bis 17 Uhr, samstags von 10 bis 12 Uhr und nach Vereinbarung (05273/ 6646- 7006) geöffnet.