Die Reise zum Oscar

■ Über die Hintergründe zum Plagiatsstreit um Xavier Kollers Film „Die Reise der Hoffnung“

Ein kurdisches Ehepaar tritt zusammen mit seinem siebenjährigen Sohn Mehmet Ali die „Reise der Hoffnung“ an, die sie aus der armen Heimat in die reiche Schweiz führen soll. Ihre Reise führt sie zunächst nach Istanbul, wo sie als blinde Passagiere auf ein Containerschiff nach Neapel gelangen. Der Versuch, auf einem Lastwagen die Grenze der Schweiz zu überschreiten, scheitert. In Mailand gerät die Familie in die Hände von Schleppern, die sie mit einer Gruppe von weiteren Asylanten in die Berge fahren. Trotz unsicherer Wetterlage werden sie ohne ortskundige Begleitung auf ihren gefährliche, illegalen Weg in die Schweiz geschickt. Bei dem gemeinsamen Versuch, einen Berg zu überqueren, kommt Mehmet Ali ums Leben.

So liest sich in kurzen Worten die Geschichte von Reise der Hoffnung, dem jüngsten Film des schweizer Regisseurs Xavier Koller, für den ihm kürzlich der Oscar verliehen wurde. Reise der Hoffnung, bereits nach seiner Uraufführung 1990 als der beste Schweizer Film des Jahres bejubelt, wurde jedoch auch scharf kritisiert. Es hieß, der Film festige Vorurteile anstatt sie abzubauen, er versäume, die harte Schweizer Asylpolitik zu erwähnen, die verantwortlich für den Tod des Siebenjährigen sei, und vermittele einen falschen Eindruck über die Realität von Armut und Völkermord, mit der die alevitische Minderheit täglich konfrontiert ist. Trotzdem erhielt Reise der Hoffnung den Oscar.

Dieser soll Xavier Koller nun streitig gemacht werden. Der türkische Schriftsteller Nihat Behram: „Xavier Koller hat die Idee zu Reise der Hoffnung meinem ihm anvertrauten Manuskript Gurbet ohne Rücksprache entnommen.“ Laut Xavier Koller entspricht dies „in keinster Weise der Wahrheit“. Koller: „Es stimmt, daß ich das Drehbuch von Nihat Behram gelesen habe, als ich auf der Suche nach einem türkischen Co-Autor war. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aber einen auf Zeitungsberichten basierenden Drehbuchentwurf für Reise der Hoffnung schon lange fertiggestellt.“ Behram will nicht glauben, daß „Koller, der keinen persönlichen Zugang zur Emigrantenproblematik hat, dieses Drehbuch selber geschrieben hat“. Behram weiter: „Solche Geschichten sind nicht neu, sie passieren seit 20 Jahren überall. Ich stelle die Ernsthaftigkeit von jemanden, der ein solches Thema nur aufgrund eines einzelnen Zeitungsberichtes aufgreift, massiv in Frage.“ Koller weist darauf hin, daß er das Drehbuch ohne seine Co-Autorin Feride Cicekoglu nicht hätte schreiben können. Von Feride Cicekoglu erfährt man, daß sie ihren Beitrag zu Reise der Hoffnung als Beraterin und Dolmetscherin einschätzt, und daß sie sich entschieden gegen ihre Erwähnung als Co-Autorin ausgesprochen hat, da von dem Drehbuch, an dem sie mitgewirkt hat und somit von dem Film, den sie sich vorstellte, fast nichts übriggeblieben ist. Die Diskrepanzen zwischen Cicekoglu und Koller kommen schon während der Dreharbeiten auf, und es kam fast zu einem Streik der gesamten türkischen Crew, die mit Kollers Absichten oft nicht einverstanden war. Ihrer Namensnennung im Nachspann stimmte Cicekoglu letztendlich doch zu, da der Film wenigstens ein wichtiges Thema zur Diskussion stellen würde. Nihat Behram dagegen: „Eine nicht auf realistischen Hintergründen basierende Auseinandersetzung mit der Emigrantenproblematik wird eher weiteren Schaden anrichten, als den Betroffenen nutzen.“

Im Bemühen um Authentizität suchte Koller schon sehr früh einen Co-Autor für die Fertigstellung seines Drehbuches. Das war für ihn nichts Neues, hatte er doch schon bei seinen früheren Filmen (Das gefrorene Herz 1979, Der schwarze Tanner, 1986) auf Geschichten Meinrad Inglins zurückgegriffen und sich darüberhinaus Walter Deubers als Co- Autor für Der schwarze Tanner bedient. Mit Feride Cicekoglu fand Koller, was er für Reise der Hoffnung gesucht hatte: Eine fachlich qualifizierte Mitstreiterin, die ihm entscheidende Hinweise auf politische, kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten ihres Heimatlandes geben konnte. Vor dem Militärputsch im September 1980 dozierte Feride Cicekoglu an der Universität in Ankara. Wie viele andere kritisch Denkende auch, wurde sie nach dem Putsch inhaftiert. Nach ihrer Freilassung 1984 veröffentlichte sie ein Buch, das später sogar verfilmt wurde. Feride Cicekoglu ist in der Türkei eine der erfolgreichtsen Schriftstellerinnen der alternativen Film- und Literaturszene.

Nihmat Behram lebt seit zehn Jahren in der Schweiz im Exil. Achtzehn Bücher, die der politisch verfolgte 68er in der Türkei veröffenlichte, wurden verboten. Kurz vor dem Militärputsch 1980 setzte sich Behram in die Schweiz ab. In Abwesenheit wurde er zu über 100 Jahren Gefängnis verurteilt. Als enger Freund von Yilmaz Güney wirkte Nihat Behram auch bei der Realisierung von dessen Film Yol — Der Weg (Goldene Palme, Cannes 1982) mit.

Auch Behrams Manuskript Gurbet hat schon eine lange Geschichte. 1984 wurde das gleichnamige Drehbuch ins Französische übersetzt und 1985 als Filmprojekt bei der Société des Auteurs et Compositeurs Dramatiques eingetragen. In den darauffolgenden Jahren gab's immer wieder Bemühungen, das Projekt zu realisieren. Der in Frankreich lebende, spanische Autor Juan Coytisola las die französische Übersetzung und empfand das Werk nicht zuletzt aufgrund seiner Beschäftigung mit dem Thema der Emigration als so bedeutend, daß er sich am 26.August 1985 an den damaligen französischen Kulturminister Jack Lang wandte mit der Bitte, das Drehbuch zu verfilmen. Jedoch vergeblich. Daraufhin erkannte das Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen Nihat Behram das Heinrich-Böll-Stipendium zu, damit er im Europäischen Übersetzerkollegium seinen literarischen Arbeiten nachgehen konnte. Daraus entstand in enger Anlehnung an das Drehbuch der Roman Gurbet. Ein Jahr später erschien der Roman in der Türkei. Noch im selben Jahr wurde er ins Deutsche übersetzt. 1989 erschien im Wuppertaler Peter Hammer Verlag die deutsche Ausgabe von Gurbet — Die Fremde. 1986/87 erwarb der Schauspieler und Produzent Ünal Gümüs (Rendesvous unterm Nierentisch), der schon für Yasemin Hark Bohm beratend zur Seite gestanden hatte, die Filmrechte an Gurbet. Zusammen mit diesem versuchte Behram nach 1987 von Deutschland aus einen geeigneten Regisseur für das Filmprojekt zu finden. 1988 gelangte das Manuskript in die Hände von Xavier Koller.

Nach Aussagen Behrams handelt es sich nicht nur um eine generelle „Unterschlagung eines Filmprojektes“, sondern auch um die „Entlehnung einer Viezahl bildlicher Ausdrücke“. Kollers Kommentar zu den unleugbaren Übereinstimmungen zwischen Gurbet und Reise der Hoffnung: „Im Leben wird viel gepinkelt und viel gegessen, und das kann man nicht urheberrechtlich schützen lassen.“ Für das Fimprojekt Gurbet jedenfalls bedeutet Kollers Haltung das Aus.Metin Uzunoglu/

Stephan Bloemertz