: Brüssel-Kids und „Cowboy“-Flics im Clinch
Vier Mainächte lang erlebte das friedliche Brüssel seine ersten Jugendunruhen: Immigrantenkinder der zweiten und dritten Generation ließen ihre Wut an Fensterscheiben, Flics und Edelboutiquen aus/ Dealer versuchen die Aufstände für sich nutzen ■ Aus Brüssel Francois Misser
Alles begann mit einer Polizeikontrolle in Forest, einer der zehn Gemeinden des Brüsseler Großraums. Gleich in der Nähe vom „Les Bains“, der schicken Glitter-Disco mitten im Kleine-Leute-Viertel der Gemeinde. Einige Jugendliche empfanden es als ungerecht, daß die Polizei einen Jungen wegen seines unlesbaren Moped-Nummernschilds schikanierte, während die Sportschlitten der Discobesucher im Halteverbot stehenbleiben durften.
Keine zufällige Ungerechtigkeit. Nur eine Diskriminierung mehr von Beamten, die von den Jugendlichen „die Cowboys“ genannt werden. Die „Cowboys“ von Forest gelten als die schärfsten. Aber es gehört zum Alltag Brüssels, in der U-Bahn marokkanische Jugendliche zu sehen, die — Beine auseinander, Arme an der Wand — durchsucht werden wie Schwerverbrecher, weil sie des Taschendiebstahls verdächtigt werden.
In einer Stadt, wo 40 Prozent der Jugendlichen unter 18 Jahren türkischer oder marokkanischer Herkunft sind, hat die Polizei ständig mit jungen Immigranten zu tun. Die Kids der zweiten oder dritten Generation halten es in den überfüllten Wohnungen ihrer Eltern nicht aus, hängen auf den Straßen Schaerbeeks und Anderlechts rum. Das weckt den Verdacht der Polizei auf Dealer oder kleinere Diebstähle. Nicht immer zu Unrecht. Aber da gibt es auch die Wut der Jüngeren, die mehrmals pro Woche auf ihrem Schulweg kontrolliert werden und an Supermärkten Plakate sehen: „Verboten für Jugendliche unter 16.“
In der zweiten Nacht der Unruhen, am 11. Mai, tauchten Molotow- Cocktails und Eisenstangen auf und gaben Anlaß zu der Vermutung, daß jemand die Ausschreitungen instrumentalisieren wollte. Zwei Tage später, kurz bevor die Unruhen auch in Molenbeek ausbrachen, riefen Mitglieder der maoistischen „Belgischen Arbeiterpartei“ in Flugblättern zu Aktionen gegen ein Treffen des rechtsextremen „Vlaamse Blok“ auf, das ausgerechnet in dieser Ghetto-Gemeinde abgehalten werden sollte.
Sozialarbeiter berichten, daß auch die Dealer zu den Provokateuren gehören könnten. Die Dealer versuchen, den Haß auf die Flics und die ethnische Solidarität auszunutzen, um Flic-freie Zonen zu schaffen. Eines ist sicher: das Gefühl der Ausgeschlossenheit, das auch von den islamischen Integristen ausgenutzt wird, ist beträchtlich.
Wenige Kilometer entfernt von den mit Parks durchzogenen Eurokraten-Gemeinden Uccle und Woluwe liegt Molenbeek. Ein Ghetto auf den ersten Blick. Manche Häuser stehen leer, mit zerbrochenen Scheiben, andere sind von zwölfköpfigen Familien bevölkert, die in zwei Zimmern zusammenleben. Die Verwahrlosung ist die Folge der Brüsseler Immobilienspekulation. Die Eigentümer lassen ihre Häuser verfallen, in der Hoffnung, daß in naher Zukunft aus dem benachbarten Boulevard Léopold II die elegante Champs-Elysées von Brüssel wird.
Diese soziale und urbane Ausgrenzung wird seit 1984 noch durch ein Gesetz verschärft. Danach können die belgischen Gemeinden, außer im Falle von Familienzusammenführungen, die Eintragung von Nicht-EG-Ausländern in ihre Gemeinderegister verwehren. Ohne diese Eintragung — kein Strom und kein Gas, keine Schule und keine sozialen Beihilfen. Zur Zeit wenden sechs Gemeinden des Brüsseler Großraums das Gesetz an. In einigen Gemeinden, etwa in Molenbeek, wird hingegen eine Integrationspolitik verfolgt. Jugendhäuser wurden gegründet und Werkkreise für belgische und arabische Frauen.
„Wir bräuchten einen richtigen Marshall-Plan“, sagt Khalil Zeguendi, der Vorsitzende einer Vereinigung von Belgiern ausländischer Herkunft. „Die Jugendlichen wollen Jeans, Blousons und ein Moped. Sie träumen von einer Wohnung, wo sie ihre Freundinnen treffen können — ganz anders als ihre Eltern, die jeden Franc beiseite legen, um eines Tages nach Marokko zurückzukehren. Wir brauchen eine Integrationspolitik im Wohnungsbau, im Unterrichtswesen und auf dem Arbeitsmarkt.“
Die heißen Mainächte haben elektrisierend gewirkt. Doch es ist wieder still geworden. Nicht nur wegen eines Polizeiaufgebots, daß bisweilen an einen Belagerungszustand erinnerte. Die Presse hat Jugendliche zu Wort kommen lassen, ein konsultativer Immigrationsrat aus Brüsseler Abgeordneten und Vertretern der Ausländergruppen soll eingerichtet werden. Und: Mehrere Gemeinden haben Sozialarbeiter und Hilfspolizisten türkischer oder maghrebinischer Herkunft eingestellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen