„Mit dem Jauchewagen über den Perser“

Der schärfste Kritiker der Schweiz, der Genfer Soziologieprofessor Jean Ziegler, beschäftigt das Schweizer Parlament/ Die eine Kammer will ihm die parlamentarische Immunität entziehen, die andere hat sich vorgestern dagegen ausgesprochen  ■ Aus Genf Andreas Zumach

Mahlers 8. Symphonie, Fußball, Goethes Faust und naturreiner Rotwein von den Hängen des Genfer Sees. Eher bürgerlich klingende Leidenschaften eines Mannes, der vielen seiner Landsleute seit über 15 Jahren als linker, radikaler „Nestbeschmutzer“ gilt: Jean Ziegler, im In- und Ausland neben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt bekanntester Schweizer seit Rotkreuz-Gründer Henri Dunant, Soziologie-Professor in seiner Heimatstadt Genf und an der Pariser Sorbonne, Autor von über 20 Büchern, seit 1977 außerdem sozialdemokratischer Abgeordneter im Nationalrat, der eidgenössischen Volksvertretung. Dort verweigerte dem scharfzüngigen Kritiker Schweizer Verhältnisse Ende März eine bürgerlich-konservative Mehrheit die parlamentarische Immunität — wegen Verleumdung. Seit immerhin 52 Jahren hatte es dies in der Geschichte des hohen Hauses nicht mehr gegeben. Eine ganze Lawine von Strafprozessen schien dem prominenten Mann ins Haus zu stehen. Doch völlig unerwartet wies am Dienstag ein Ausschuß der zweiten Kammer des Parlaments, des Ständerats, in den jeder der 23 Kantone zwei Vertreter entsendet und in dem die bürgerliche Mehrheit noch größer ist als im Nationalrat, die Entscheidung des Nationalrats zurück. Zwar treffe der Tatbestand der Verleumdung zu, doch habe Ziegler dieses Delikt nicht als Privatperson begangen, sondern durchaus in Zusammenhang mit seiner Funktion als Parlamentarier. Der Schwarze Peter liegt nun wieder beim Nationalrat, der sich mit dem Fall seines unbequemen Mitglieds neu befassen muß.

1976 erschien Zieglers Buch Eine Schweiz über jeden Verdacht erhaben. In der inzwischen in über 20 Sprachen übersetzten Bestseller- Kritik zerstörte Ziegler das Image vom urdemokratischen Musterstaat und schilderte seine Heimat als von Banken, Banditen und korrupten Politikern beherrschtes Disneyland. Zwar konnten ihm Kritiker damals einige Halbwahrheiten und Übertreibungen nachweisen — doch im ganzen behielt Ziegler mit seiner Analyse recht. Der vor zwei Jahren durch eine Drogengeldaffäre ausgelöste Skandal um die ehemalige Justizministerin Kopp, in dessen Folge auch die illegale Beschnüffelung von 900.000 Eidgenossen aufflog und schließlich neben Kopp der Bundesgeneralanwalt sowie die Chefs der politischen Polizei, des Nachrichtendienstes und der Bundespolizei ihren Hut nehmen mußten — dieser Skandal lief genau nach dem Muster ab, das Ziegler seinerzeit schon beschrieben hatte. Doch der streitbare Aufklärer, der nach dem Zusammenbruch der von ihm schon immer hart kritisierten Systeme Osteuropas erst recht an der Notwendigkeit und Machbarkeit eines demokratischen Sozialismus festhält, verschont auch politische Kampfgefährten nicht mit herber Kritik. In Die Genossen an der Macht — von sozialistischen Idealen zur Staatsraison rechnete das Führungsmitglied der Sozialistischen Internationale 1988 mit der Partei Francois Mitterrands ab. Er warf ihr vor, heute ein „rosarotes Kolonialreich“ zu regieren und erfolgreiche Waffengeschäfte zu tätigen. Mit diesen Veröffentlichungen sowie mit seinen soziologischen Studien über Afrika und „Afrikas neue Kolonisation“ schaffte sich Ziegler im Ausland einen Ruf als engagierte Autorität auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen „Erster und Dritter Welt“. Intellektuelle aus Entwicklungsstaaten kommen in die Schweiz, um Schokolade zu kaufen und den Professor in seiner Genfer Arbeitsklause zu treffen. Dort hängt neben einem chilenischen Plakat aus der Zeit Salvador Allendes und einem vergilbten Nachruf auf seinen Mentor Wolfgang Abendroth auch ein Bild Che Guevaras. Jener lateinamerikanische Revolutionär, der ihm im Frühjahr 1964 an der Bar des Genfer Intercontinental-Hotels den Rat gab, das „Wort als Waffe“ zu benutzen und „im Gehirn des Monsters“ zu kämpfen. Es sind diese und andere Stationen in der Biographie des Jean Ziegler, die ihn für viele seiner rechtschaffenen Landsleute mit gradlinigen Lebensläufen verdächtig machen. 1934 in dem großbürgerlichen Haushalt des Direktors der Berner Militärversicherung geboren, studierte Hans Ziegler in der Schweizer Hauptstadt zunächst brav Jura, soff und schlug sich in rechten Studentenverbindungen. Seine ganz persönliche Wende kam mit dem Wechsel an die Pariser Sorbonne. Sartres Existenzialimus erlöst Ziegler von seiner bürgerlichen Herkunft. Er wechselt ins Fach Soziologie, konvertiert vom Protestanten zum Katholiken, vom Hans zum Jean. Seine Arbeit in einer kubanischen Zuckerrohrbrigade führt zur Identifikation mit Castros Revolution. Simone de Beauvoir redigiert seinen ersten Artikel im französischen Intellektuellenblatt 'Les Temps Modernes‘. Später wird Ziegler erster europäischer Korrespondent der unter anderem von Garcia Márquez gegründeten kubanischen Presseagentur 'Prensa Latina‘. Seine Erfahrungen im kongolesischen Bürgerkrieg, die er 1975 in seinem — ihm selbst bis heute wichtigsten — Buch Die Lebenden und der Tod festgehalten hat, bilden die Grundlage zum Hauptmotiv von Zieglers politischem Engagement: Der Kampf gegen Elend, Krieg und Unterdrückung in der Dritten Welt, für die nach seiner Überzeugung wesentlich die Ausbeutung durch die kapitalistischen Staaten verantwortlich ist. In bislang 66 Akten, sogenannten Fichen, hat die Schweizer Bundespolizei den — vergeblichen — Versuch unternommen, diese schillernde Biographie zu erfassen.

Mit dem Vorwurf an einen angesehenen Genfer Finanzier, er sei ein „Immobilienspekulant“, ein Baumwoll-und Erdölschieber, vor allem aber mit seinem jüngsten Buch, Die Schweiz wäscht weißer, hat Ziegler die Toleranzfähigkeit seiner Landsleute bisher am ärgsten strapaziert. Auf die Äußerung und das Buch, das seit seinem Erscheinen vor einem Jahr allein in Frankreich über 200.000mal verkauft wurde und auch in der Bundesrepublik bereits in der vierten Auflage verlegt wird, hagelte es Strafanzeigen. Unter Berufung auf die Skandale der letzten Jahre konstatiert der Soziologieprofessor in Die Schweiz wäscht weißer, der helvetische Staat habe den Kampf gegen die Wirtschaftsmächtigen längst verloren. Das Parlament werde korrumpiert durch die Großbanken. Die Banken, die allzu lange über ihre Verhältnisse und von den Fluchtgeldern ausländischer Diktatoren gelebt hätten, seien zunehmend von Einlagen aus dem internationalen Drogengeschäft abhängig. Das Volk, resümiert Ziegler schließlich, halte still, weil die Bankenwirtschaft noch immer einen gewissen Wohlstand schaffe.

„Ziegler ist mit dem Jauchewagen über den Perserteppich im Wohnzimmer gefahren und weigert sich nun, die Reinigungskosten zu bezahlen.“ So begründete ein konservativer Abgeordneter im Nationalrat seine Weigerung, dem sozialdemokratischen Kollegen parlamentarische Immunität zu gewähren.