Die konvulsivische Schönheit des freien Spiels

■ Der »Workshop Freie Musik '91« der Free Music Production in der Akademie der Künste

Häßlich sind sie, allesamt, schaut euch das doch einmal an: diese hängenden Tränensäcke, der stiere Blick, die frisurresistenten Haare, die fleckige alkoholgegerbte Gesichtshaut. Dann die gekrümmte Haltung, bucklige Wichte sind das, Knochensäcke, die sich in Lumpen gehüllt haben, welche den Ausdruck Kleidung nicht verdienen. Häßliche Menschen, herruntergekommene Figuren, schlecht gekleidet, unanständiges Benehmen, alle haben sie einen Tick und wenn man sie machen läßt was sie wollen, dann machen sie Free Jazz. Das ist Musik, die von Frauen instinktiv gemieden wird, das ist Musik von Abgedrehten für Masochisten, die genau das bekommen, was sie verdienen. Nichts für fröhliche junge Menschen.

Fangen wir anders an.

Eigentlich müßte die Sache Konjunktur haben. Sie setzt auf Spontaneität, entfesselt kreative Energien, sie befreit das bedrängte Herz mit einem tiefen Schrei, sie ist leidenschaftlich, ekstatisch, sie lehnt Regeln, Zwänge, Konventionen ab, sie sucht das Zusammenspiel mit anderen Menschen, sie argumentiert mit Gefühlen statt mit Worten: Free Music. Durch Musik zum besseren Menschen werden!

Aber sie ist nicht in Mode, nicht einmal als Abschlußtest der Kurse für Meditation unter erschwerten Umständen hat sie Anklang gefunden.

Free Music, das ist nicht das gleiche wie Free Jazz. Wohl ging das eine aus dem anderen hervor, zwar spielen die gleichen Instrumente die Hauptrolle und viele der Instrumentalisten bewegen sich souverän zwischen den Gefilden (und spielen auch Swing, wenn's der Laune entspringt oder der Börse zupasse kommt), aber man müßte den Begriff Jazz schon ziemlich beuteln bis er paßte. Neben »Hidden Peak« vom Schlippenbach-Quartett klingt die Platte »Free Jazz« (erster Auftritt des Namens) von Ornette Colemans Double Quartet wie Rhythm and Blues.

Zentrales Anliegen dieser Musik ist es eben nicht, den Jazz zu reformieren, sondern die Befreiung von wie auch immer gearteten Vorgaben. Dem entsprechend hat Free Music viele Gesichter, die je nach Auffassung dessen, was Freiheit denn eigentlich sei, variieren und natürlich von Charakter und Temperament des jeweiligen Spielers abhängig sind. Unikate sind sie allesamt, denn nur wer mit eigener Stimme spricht wird gehört. Und wie selten sonst, geht die Haltung in die Musik ein, diktiert der Körper die Klänge.

Deutlich wurde das in der »Kaputtspielphase« der Free Music, man spielte »bis der Fahrstuhl (eigentlich Paternoster; gemeint ist der Kreislauf) abstürzt«. Das hat zu wilden Exzessen geführt, die, weil die Instrumente meist unverstärkt waren, eine enorme Vitalität voraussetzten. Mittlerweile hat sich das gelegt und um des Zusammenspielen willens sind Spielregeln, Absprachen, Konzepte, ja sogar Kompositionen wieder ins Metier zurückgekehrt, denn wenn »ein Dutzend Improvisatoren, gleichzeitig voll im Schwall, oftmals eine sehr schlammige Musik machen, ist das ungefähr so, als wenn alle Farben auf einer Malerpalette sich zu einer Art Müllkübel-Graubraun vermischen«, so hat niemand etwas davon, der Instrumentalist verliert seine Stimme, der Hörer seine Orientierung.

Das Publikum solcher Veranstaltungen ist ein Kapitel, das hier nicht eröffnet werden soll. Am auffälligsten ist die Gabe des Mitleidens, des Teilhabens und wohl auch die Freude am Unvorhergesehenem. Es nimmt Höhenflüge und Abstürze hin, goutierend oder erduldend, als wären es die eigenen.

Wenn schon die Musiker und ihr Publikum etwas abwegig sind; die Veranstalter solcher Konzerte müssen Maniacs sein, das ist anders nicht vorstellbar, denn im Unterschied zu anerkannten Minderheitenprogrammen wird Free Jazz so gut wie gar nicht subventioniert (daher das runtergekommene Outfit). Die Initiatoren des »Workshop Freie Musik '91«, die Leute von der so-called FMP — »Free Music Production« —, werden denn wohl neben einem gerüttelt Maß an Leidensfähigkeit auch genügend Gespür für das gerade noch so Machbare haben. Die FMP ist die Arche Noah der akustischen Hungerkünstler und versorgt die Freistilmusiker bereits seit zwanzig Jahren mit Auftritten und Plattenproduktionen. Dabei entstehen Veranstaltungsreihen wie das »Total Music Meeting«, trotziger Kontrapunkt zum zeitgleichen Jazz-Fest, »Free Concerts«, freier Eintritt im Rathaus Charlottenburg, »Just Music«, die Konzerte im Studio der FMP und eben »Workshops«, wie den nun announcierten in der Akademie der Künste (West).

Das Programmkonzept ist meist denkbar schlicht strukturiert: Man nehme sechzehn Pianisten und lasse würfeln wer wann gegen wen spielt (Total Music Meeting '84). Das Prinzip ist, einen Pool von Musikern zusammenzustellen und dann die verschiedenen Besetzungen durchzumendeln. Das kann zu krassen Begegnungen führen, etwa wenn ein Klangsensibelchen auf den gefürchteten Klavierfäller trifft (über die Namen später). Mittlerweile dürften sich aber die meisten Spieler kennen und in absehbarer Zeit jeder mal mit jedem gespielt haben, denn die Familie ist überschaubar klein.

Beim diesjährigen Workshop heißt die Spielregel: An jedem Abend je zwei Solisten gleichen Instruments alternierend mit einer gemischten Besetzung. Am Freitag (16. Juni) ist das Soloinstrument die Posaune, zunächst von Friedrich Schenker, dann von Alan Tomlinson gespielt, abgewechselt von »The Recedents« (Lol Coxhill, Mike Cooper, Roger Turner). Friedrich Schenker gehört eigentlich zu der Neuen-Musik-Familie, hat schon einige Kompositionen verfasst und ist in der »Gruppe Neue Musik Hanns Eisler« angestellt. Das Vokabular der zeitgenössischen Musik ist ihm ebenso geläufig, wie die Techniken der Improvisation; die Idiome beider Sparten verfließen oft ineinander und solche Grenzgängerei ist manchesmal reizvoller als die ungebremste Vitalität eines Gib-ihm-was-du-kannst-Puristen.

Samstag ist das Thema 'Piano' dran (Simone Weissenfels, Borah Bergman) und das Interludium wird von Georg Katzer und Wolfgang Fuchs gestaltet. Auch Georg Katzer ist ein richtiger Komponist aus der ernsten Szene und zugleich Fachmann für elektronische Manipulation. Mit einem Computerequipment kann er die Töne von Saxophonisten und Klarinettisten Fuchs aufgreifen und nach Gutdünken verarbeitet seinem staunenden Kollegen zurückgeben.

Am Sonntag spielt Ernst Reijseger das Cello und Ilias Papadopulos die »Lyra« (Was kann gemeint sein? Etwa jenes siebentönige Instrument mit dem griechische Jünglinge ihren betörenden Gesang sapphischer Oden begleiteten? Man wird sehen, richte sich aber vorsichtshalber auf keine allzu beschauliche Idylle ein). Das Altmeister-Trio aus Evan Parker, Axel von Schlippenbach und Paul Lovens beschließt den Reigen seliger Geister mit ihrer Art des Lobliedes auf das freie Spiel. fh

Alle Konzerte in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 1-21, beginnen um 21 Uhr