Nichten entdecken eine Tante

■ Filme von Muriel Box im Arsenal-Kino

In fast jeder Familie gibt es eine Tante, über deren Biographie Merkwürdiges gemunkelt wird mit der Absicht, sie ob ihrer Vergangenheit oder Andersartigkeit zur Schrulle zu machen. Meistens sind die Nichten längst erwachsen, bevor sie Sympathien für diese Verwandte entdecken und ihre Geschichte als mehr oder weniger gelungene Fluchtversuche aus der Kleinfamilie begreifen. In gewisser Hinsicht spielt Muriel Box in der britischen Filmfamilie diese Rolle: Nicht wenige männliche Kollegen sagten ihr direkt ins Gesicht, daß sie eine Frau grundsätzlich für Regiearbeiten ungeeignet hielten, ihr Studio verweigerte ihrem größten Film The Truth about Women jede Publikums- und Pressearbeit und die Filmhistoriker übersahen Muriel Box mit unbewußter Systematik.

Dieses forcierte Vergessen dauerte ziemlich exakt bis zum Jahr 1990, als das »Festival des Filmes des Femmes« in Créteil Muriel Box eine Retrospektive widmete. Die britische Filmemacherin war damals 85 Jahre alt und wunderte sich über die Einladung und die Aufmerksamkeit, die ihr vor allem die feministische Filmwissenschaft fortan schenkte. Dem Berliner Publikum stellt im Juni der »Verein feministischer FilmBildungsarbeit« sechs Muriel-Box-Filme im Arsenal-Kino vor und zeigt begleitend zur Retrospektive am nächsten Wochenende im »Araquin« ein halbstündiges »Videogespräch« mit der Filmemacherin. Durch den Tod von Muriel Box vor etwa einem Monat wurde diese Filmreihe unversehens zum Nachruf. The Truth about Women aus dem Jahr 1957 war Muriel Box' Lieblingsfilm, zusammen mit ihrem Ehemann Sydney Box hat sie das Drehbuch geschrieben. Es geht um einen pensionierten Diplomaten, der die Ehekrise seines Schwiegersohns zum Anlaß nimmt, seine eigenen Frauenbekanntschaften Revue passieren zu lassen. Im regelmäßigen Rhythmus — eine Frau pro Land — lernt Sir Humphrey Tavistock die Haremsdame Saäda in Yekrut kennen, Louise à Paris, Helen in Prag, die schwedische Krankenschwester Julie im Lazarett usw. und kehrt nach jeder Episode mit einer psychedelischen Überblendung zurück in die heimische Bibliothek.

Für sich betrachtet, wirken die einzelnen Liebesgeschichten wegen der folkloristisch-theatralischen Klischees oft albern und hölzern, bekommen aber durch den Seriencharakter im Verlauf des Films doch etwas Komisches. Das mag auch am stets nur leicht maskierten urbritischen Frauentyp liegen, der mit seiner verräterisch rosarosigen Technicolor-Gesichtsfarbe durch alle landesüblichen Trachten und Make-up-Schichten hindurchschimmert. Sir Humphrey als männliches Objekt diverser weiblicher Verführungskünste ist eine leichte Beute, was ihm ja nicht vorzuwerfen ist. Weil er aber rein gar nichts dazulernt, wirkt er spätestens in der dritten Episode wie ein Langweiler, gar ein bißchen dumm, sobald er an materialistisch orientierte Typen gelangt. Leider brauchen die Frauen Sir Humphreys Zuverlässigkeit wegen nie zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen, die diese Art Filme sonst so unterhaltsam machen. In The Truth about Women ist der Mann ein Pawlowscher Hund und die Frauen erfreuen sich seiner Dressur. Es gehört schon ein bißchen Gutwilligkeit mit dazu, wenn man diesen Film als präfeministisch bezeichnen will. Die Bereitschaft, aus diesem Blickwinkel zu schauen, wächst allerdings, wenn man weiß, gegen welche chauvinistische Repression Muriel Box ziemlich allein in den British Lion Studios der 50er Jahre anzuarbeiten hatte und daß sie, nach eigenen Aussagen, ihre feministische Grundhaltung stets unter dicken Schichten popularistischer Zugeständnisse verhüllen mußte. Auf diese Hintergründe wird heute und morgen die britische Regisseurin und Produzentin Laura Hastings- Smith bei der Einführung in die Filme zu sprechen kommen.

Typisch für Muriel Box' Film Street Corner aus dem Jahr 1953 ist, daß er ganz anders als The Truth about Women ist. Halbdokumentarisch und schwarzweiß erzählt Street Corner über den Berufsalltag Londoner Polizistinnen. Wie sie in ihren taillierten Uniformen kleine, verrückte Kindermonster von Dachvorsprüngen herunterholen, Streit in zerrütteten Familien schlichten, in schicken Zivilkostümen Juwelendieben schöne Augen machen und männlichen Kollegen mit höflich-markanter Schlagfertigkeit emanzipatorisches Grundwissen lehren. Die Fäden des Unrechts und der Verbrechen laufen in diesem Film in einer eigenartigen Entfernung zwischen Fiktion und „Wirklichkeit“ eng nebeneinander her und berühren sich deswegen zuweilen. Darin liegt ein formaler Reiz, wenn er auch beständig die Möglichkeit des Sieges vom Guten über das Böse suggeriert. Das obliegt nicht zuletzt der dargestellten Natur der Frauen — als Wächterinnen des Gesetzes, aber auch als klauende Mutter oder in die Irre geführte Gangsterbraut. Im Unterschied zu den Männern ist den Frauen in Street Corner nämlich die genuine Fähigkeit, böse zu sein, nicht wirklich vergönnt. Während die Männer aus Habgier stehlen und lügen, wird die junge Mutter von der Not dazu getrieben, einen Strampelanzug für ihr Baby zu klauen. Märchenhaft, aber deswegen nicht langweilig zu sehen ist, wie Muriel Box das Verhältnis der Polizistinnen zueinander inszeniert: kollegial, respektvoll mit dezentem Witz und irgendwie utopisch. Als Film ohne feste Genregrenzen erlaubt Street Corner auch manche amüsante Szene, zum Beispiel wenn eine der „cute cops“ nach einem Einsatz neben ihrem bestgehaßten Kollegen im Krankenwagen liegt und die beiden sich komplizenhaft von Trage zu Trage unter den Verbänden anlächeln. Oder wenn der Polizeidirektor Anweisungen für die Zivilkleidung im Nachtklub gibt. Street Corner ist so etwas wie die hübsche, mit funkelnden Steinchen besetzte Brosche, die einem besagte Tante anläßlich der Heiligen Kommunion vererbt hat. Dorothee Wenner

Street Corner (OF): Sa. 15. Juni um 20 Uhr und Di. 25. Juni um 22.15 Uhr. The Truth about Women (OF): Mo. 17. und Do. 27. Juni jeweils um 22.15 Uhr im Arsenal-Kino, Welserstraße 25, Berlin 30. Alle weiteren Filme: siehe Programmteil.