Die andere Seite der Arbeitslosigkeit

Kein gesellschaftliches Problem ist gegenwärtig akuter und erhitzt die Gemüter mehr als das der Arbeitslosigkeit. [...] Was bedeutet dieser Verlust für einen Menschen?

Zwar spielt der Einkommensverlust eine nicht unwichtige Rolle angesichts all der ansteigenden Kosten. Dennoch entspricht es nicht der Würde des Menschen, ihn einzig als ökonomisches Wesen zu betrachten und zu behandeln. Arbeit bedeutet mit Sicherheit mehr als ausschließlich Verdienen des Lebensunterhaltes. Materiell-finanzielle Sicherstellung allein ist noch nicht das soziale Netz, dessen sich unser Staat so sehr rühmt. Diese Masche ist zu groß, als daß die Humanität nicht durchfallen könnte.

Wie ernst wird der (nicht mehr) arbeitende Mensch genommen, wenn er in der Sicht der Gesellschaft auf den Status des puren Lohnerwirtschafters reduziert wird? Menschsein ist mehr als materiell gesicherte Existenz. Arbeit gehört zum Selbstverständnis des Menschen, und wo ihm die Möglichkeit genommen wird, seine Fähigkeiten und Qualifikationen in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, wird nicht nur in sein Portemonnaie, sondern auch in sein Seelenleben eingegriffen. Ein Mensch, auf Produzieren hin angelegt, soll nur noch konsumieren. Aber Konsum befriedigt einen kreativen Menschen nicht. Leistungen bringen zu können, aber nicht zu dürfen gleicht seelischer Vergewaltigung und hinterläßt tiefe Wunden. [...]

Ein weiterer Gesichtspunkt ist die neue Einsamkeit. Der an den Haushalt gebundenen Frau fällt die Decke auf den Kopf; der aufs Abstellgleis geschobene Mann sucht sich die Gesellschaft, die er nicht missen möchte, in der Gastwirtschaft am Stammtisch. Doch trotz äußerer alkoholischer Geselligkeit bleibt die Einsamkeit. Denn gemeinsames Trinken kann nicht aufwiegen, was im Arbeitsalltag erlebt wurde, nämlich kollektive Tätigkeit, Erfahrungsaustausch, gesellschaftsreflektierende Kommunikation, eben gesellschaftliches Erleben. [...]

Arbeit in Gemeinschaft gehört zu einem ausgeglichenen Leben. Wird sie genommen, nimmt der einzelne Schaden an Leib und Seele [...], der Arbeitslose versteht sich als überflüssig, erlebt sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, gerade weil sich diese als Leistungsgesellschaft versteht. An dieser Abseitsstellung aber leidet er.

Menschliche Würde heißt: Der Mensch will als Ganzes, als Persönlichkeit gewürdigt werden, als materiell interessierter, aber auch als Mensch mit geistig-seelischen Bedürfnissen. In der öffentlichen Diskussion ist jedoch zu beobachten, daß diese Ganzheit mißachtet wird. Darum kann noch soviel Arbeitslosengeld/Sozialhilfe und noch so gute materiell-finanzielle Absicherung keine Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit sein. Der Materialismus macht den Menschen und damit die Gesellschaft kaputt. [...] Es ist auffallend, daß die „soziale Marktwirtschaft“ seit der letzten Wahl keine Rolle mehr im Vokabular der Politiker spielt. [...] Jens-Uwe Hensel,

Falkenberg/Pasewalk