Ramstein — und kein Ende

■ Beim Flugunglück von 1988 geht es um eine Schadensersatzsumme von 60 Millionen Mark/ Die Italiener müßten zahlen, wenn sich ihre Schuld beweisen ließe, doch die Aufklärung des Falles unterbleibt/ VON W. RAITH UND J. WEIDEMANN

Italienische und deutsche Journalisten, die sich mit dem Fall der abgestürzten Kunstflugstaffel „Frecce tricolore“ 1988 über Ramstein befassen, kommen immer mehr ins Staunen. „Wo immer man bei diesem Fall hingreift“, entsetzt sich eine Kollegin von 'il manifesto‘, „man greift todsicher in irgedwelchen Dreck hinein.“ Diesmal geht es um zwei neue Ungeheuerlichkeiten: um die Regelung des Schadensersatzes in zweistelliger Millionenhöhe — bekanntlich kamen 70 Menschen bei dem Unglück um, an die 400 wurden teilweise schwer verletzt — und um die Art, wie nicht nur die italienischen Militärbehörden (denen man Vernebelung angesichts ihrer eindeutigen Schuld noch nachsehen mag), sondern auch die zivilen Strafermittler den Fall begraben haben. Und das ohne jeden Versuch wirklicher Aufklärung, aber mit dem Anspruch, damit sei das letzte Wort gesprochen.

Die Mitteilung an den in Deutschland territorial zuständigen Staatsanwalt Norbert Dexheimer aus Zweibrücken flatterte kurz nach Ostern 1991 auf den Schreibtisch. Die Mitteilung schien zunächst einmal eindeutig, den italienische Botschaft lautete: „1.Mit Entscheidung Nr. 1918/89 vom 29.6. 1989 hat der zuständige Untersuchungsrichter von Udine die Offiziere der italienischen Luftwaffe Miniscalco Gianpaolo, Guzzetti Maurizio, Vivona Antonio, Accorsi Pierluigi, Tricomi Francesco, Rosa Stefano und Gropplero Gianpietro wegen nichtbegangener Straftaten außer Verfolgung gesetzt. 2.Das gegen den Führer am Boden der italienischen Kunstflugstaffel, Oberstleutnant Ranieri Diego, eingeleitete Strafverfahren Nr. 1918/89 ist durch den Untersuchungsrichter beim Gericht Udine mit Spruch vom 7.2. 1990 wegen Nichtbestehens der Straftat abgeschlossen worden.“

Der Fall schien damit erledigt, alle Zweifel ausgeräumt, es könne etwas anderes als ein reiner Pilotenfehler die Ursache für den Zusammenstoß gewesen sein, ja möglicherweise sogar jemand eine der Maschinen technisch manipuliert haben, weil zwei der drei umgekommenen Piloten möglicherweise wichtige Zeugen in einem spektakulären, bisher unaufgeklärten Flugzeugabsturz 1980 gewesen waren.

Die italienischen Behörden hatten sich merkwürdig viel Zeit gelassen, bis sie die Deutschen über den Ausgang auch der nichtmilitärischen und insofern wohl unparteiischeren Untersuchung unterrichteten — mehr als eineinhalb Jahre nach Abschluß des ersten Ermittlungsverfahrens und nahezu ein Jahr nach Beendigung des zweiten Verfahrens. Eine Begründung für die Verspätung gab es nicht, obwohl Staatsanwalt Dexheimer aus Zweibrücken die Abschlußerklärung wiederholt anfordern mußte. Auch wurde von den Italienern keinerlei Begründung für die Einstellung des Verfahrens übermittelt. Die Deutschen hatten sich eben zu bescheiden — und taten es auch.

Möglicherweise aber war die schleppende „Kooperation“ der italienischen Seite auch Kalkül. Denn je länger der Abschluß des Verfahrens in Deutschland unbekannt blieb, umso später mochte sich jemand daran erinnern, daß mit alledem ja auch Fragen des Schadensersatzes zusammenhängen, immerhin eine Mindestsumme von 20 bis 25 Millionen D-Mark. Und umso später konnte man all das aufrollen, was mit der Einstellung des Untersuchungsverfahrens beerdigt werden sollte.

Den Italienern geht es um 40 Millionen DM

Nachfragen zum Fall Ramstein muß man ziemlich penetrant stellen, um italienischer- wie deutscherseits hindurchzustoßen durch einen Nebel von „Das steht alles kurz vor einer Entscheidung“ (der Pressesprecher der italienischen Botschaft im März zur Schadensersatzfrage) und „Darüber habe ich keine Informationen“ (dieselbe Stelle Anfang Juni) oder aber hoffnungsvolle Sprüche wie aus dem Bonner Verteidigungsministerium: „Italien soll und wird bezahlen.“

Der aktuelle Stand der Schadensregulierung: Bisher hat Bonn aus der Steuerkasse die unmittelbaren Schäden — Krankenhausbehandlungen, Arbeitsunfähigkeit, Sachbeschädigungen — verauslagt; insgesamt zwischen 25 und 30 Millionen D- Mark. Zurückerhalten hat sie davon jedoch noch keinen Pfennig, obwohl Italien als alleiniger Verursacher nach dem Nato-Statut 75 Prozent bezahlen muß. Zu den schon verauslagten Summen kommen noch beträchtliche weitere Folgelasten wie etwa lebenslange Renten für alle auf Dauer arbeitsunfähig Gewordenen und für die Hinterbliebenen. Sie werden die Anfangssumme mehr als verdoppeln. Zwar erklärt das deutsche Verteidigungsministerium, die „Hauptschuld der Italiener“ sei „festgestellt und von Italien auch anerkannt“ — doch warum dann bis heute noch kein Geld geflossen ist, weiß man auch auf der Hardthöhe nicht so genau. Sicher ist, daß die Italiener vor allem die Amerikaner auch noch gern zu einem Obolus überreden möchten (diese wollen sich dagegen allenfalls auf einen eher symbolischen Beitrag beschränken). Und daß sie sich erst zu zahlen bequemen wollen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Nicht einmal eine Geste guten Willens von italienischer Seite ist bisher erkennbar.

Sieht man die Dinge unter diesem Gesichtspunkt, so erhalten eine Reihe von Fragen plötzlich ihre Antwort, die bei den ersten Annäherungen an all die Ungereimtheiten des Falles Ramstein nicht zu beantwortbar erschienen. So zum Beispiel: Wieso unternahmen die zivilen Untersuchungsbehörden — von denen man ja im Unterschied zu den Militärbeamten Neutralität erwarten dürfte — offenbar keinerlei ernsthafte Versuche, über die Ergebnisse der italienischen Luftwaffenkommission hinaus zu ermitteln? Die der taz mittlerweile vorliegende Begründung zur Einstellung des Verfahrens scheint über weite Strecken von dem Versuch gekennzeichnet, allen anderen Beteiligten die Schuld oder wenigstens ein kräftiges Mitverschulden zumindest an der hohen Opferzahl zuzuschieben — eben nur nicht den Italienern, was logischerweise die Frage der Schadensregulierung natürlich erneut offenhalten würde. Die eigentliche Aufgabe, den Unfallhergang und dessen Ursachen wirklich aufzuklären, geriet dabei völlig aus den Augen.

Aufgrund des Nato-Truppenstatuts und des für solche Fälle geltenden Zusatzabkommens Stanag hatte Italien das Ermittlungsverfahren hinsichtlich des Unglücks selbst an sich gezogen, die deutschen Behörden durften nicht mehr weiterermitteln: bei Verwicklung alliierter Militärpersonen gilt das „Herkunftsprinzip“ (also die nationale Zugehörigkeit des mutmaßlichen Täters), nicht wie sonst das Terrotorialprinzip (also der Ort der mutmaßlichen Straftat).

Untersuchungsrichter: Der Fall ist unaufgeklärt und muß es auch bleiben

Auch in der vom Militär eingerichteten italienisch-deutsch-amerikanischen Kommission hatten ausschließlich die Italiener den Unfall untersucht, während die Deutschen nur den Fragen der Notrettungsbereitschaft und die Amerikaner den Sicherheitsvorkehrungen auf ihrer Basis Ramstein nachgingen.

Nach Erkenntnissen der italienischen Seite, die dann automatisch zu denen der trilateralen Kommission wurden, war ausschließlich ein Fehler des Solopiloten Ivo Nutarelli bei der Flugfigur „Cardioide“ schuld am Desaster. Nutarelli sei zuerst zu hoch aufgestiegen, habe dann seinen Looping zu sehr verkürzt und zu weit nach unten gezogen, um dann schließlich, erneut fehlerhaft, wieder hochzusteigen und sei so mitten in die noch in seiner Flugbahn befindliche zweite Staffel hineingerast.

Daß der zivile Untersuchungsrichter Dr. Roberto Paviotti aus Udine — zuständig, weil die „Frecce“ ihren Standort in Rivolto haben — die technischen Ergebnisse der Militärs für seine Ermittlungen herangezogen hat, ist absolut legitim, ja ein Grunderfordernis. Unverständlich bleibt, warum er diese Ergebnisse nicht an einer einzigen Stelle einer Gegenprüfung durch neutrale Gutachter unterzogen hat. Schließlich ist es doch gerade die Luftwaffe, die das Desaster verursacht hat, wer auch immer am Absturz selbst schuld sein mag. Doch Dr. Paviotti zitiert blauäugig die Sentenz der Militärs vom Pilotenfehler — basta.

Dennoch hat er für seine Einstellungsbegründung fast 20 Seiten aufgewandt. Und das hatte seinen Grund. Die wirklich bemerkenswerten Punkte und seine eigenen, wenn auch spärlichen Zweifel sind darin so kunstvoll versteckt, daß bisher offenbar noch niemand auf die Quintessenz kam, welche beiden Urteile zugrunde liegt: der Fall ist unaufgeklärt, und er soll es auch bleiben.

Er zitiert ausgiebig die Vorgabe des damaligen Justizministers, wonach man zu „einer vertieften Wertung möglicher anderer Verantwortlichkeiten von Personen“ kommen und gegebenenfalls „durch weitere weitere technische Erhebungen zu entsprechenden Anklageerhebungen schreiten müsse“.

Dem hat der wackere Untersuchungsrichter durch eine Art Schaunummer Rechnung zu tragen gesucht — er trennte das Verfahren gegen den Bodenführer der Staffel (der per Funk mit den Politen in Kontakt steht) vom Verfahren gegen die „Frecce“-Piloten ab, erhob gegen ihn formell Anklage — und stellte die Sache dann ein halbes Jahr später ein. Die „weiteren technischen Erhebungen“ beschränkten sich auf ein Verhör der übrigen „Frecce“-Piloten und des früheren Kommandanten Bernardis zur Frage, ob man die Figur „Cardioide“ von vorneherein als gefährlich ansehen konnte . Antwort unisono: Nein, sie gehörte zu einer der leichtesten Vorführungen. Zweite Frage: Warum hat man den Solopiloten, anders als im Stanag- Abkommen verlangt, über das Publikum fliegen lassen und nicht von diesem fort? Antwort: weil man die Figur sonst nicht hätte fliegen können — und weil diese Richtung noch weniger gefährlich schien als die umgekehrte.

Gegen Tote ermittelt man nicht

Ansonsten bekümmerten den Richter in seinen beiden Urteilsbegründungen vor allem die Fehler der Nicht-Italiener: So sei es zum wirklichen Desaster — den vielen Toten am Boden — nur gekommen, weil die Amerikaner nicht alle Sicherheitsvorkehrungen des Stanag beachtet hatten. Vor allem aber hätten sich die Veranstalter auf eine Kunstflugstaffel eingelassen, die im Gegensatz zu ihrem Ruf („excellent safety record“, zitiert er entsetzt den US-Leiter des Kunstflugtages) berüchtigt sei für ihre Unfallträchtigkeit. Ob die Organisatoren das wirklich wußten — und damit fahrlässig gehandelt hätten — läßt er offen. Zur Untermauerung seiner Schelte zählt er dann mehr als ein halbes Dutzend tödlicher Unfälle auf, in welche die „Frecce“ bzw. einzelne ihrer Piloten verwickelt gewesen waren (und damit es noch dramatischer wird, legt noch einen Fall dazu, der sich erst nach Ramstein abgespielt hat). Außer acht läßt er dabei freilich, daß die Unfälle schlagartig aufhörten, seit die beiden besonders erfahrenen Piloten Nutarelli und Naldini (dessen Namen er übrigens kaum einmal richtig schreibt) 1981 bzw. 1982 in die „Frecce“ eingetreten waren und die Staffel statt der alten Fiat G91 die besonders flugsichere Aermacchi MB 338 benutzte. Es hätte wohl nicht zur These gepaßt, daß, wer die „Frecce“ einlädt, eben mit Toten rechnen muß. Und das alles eben nur ein „gewöhnlicher“ Unfall war.

Das Verfahren, das wirklich Klarheit in die Unfallursache hätte bringen können, war natürlich nicht das gegen die überlebenden Piloten und den Bodenführer, sondern eben jenes gewesen, das er so dick auf das Titelblatt der ersten der beiden Einstellungsverfügungen geschrieben hat: „Gegen Ivo Nutarelli“, den Solopiloten, der den Unfall verursacht hatte. Genau da wäre zu untersuchen gewesen, ob Fahrlässigkeit, Maschinenschaden, schlechte Wartung — oder aber Manipulation den Absturz herbeiführte. Diese letzte Möglichkeit war angesichts zahlreicher anderer „zufälliger“ Todesfälle unter möglichen Zeugen im Zusammenhang mit dem Desaster vor Ustica 1980 ganz und gar nicht auszuschließen. Doch genau das Verfahren gegen Nutarelli schloß der Untersuchungsrichter schon ab, bevor er damit anfing: „Insoweit tot, wird das Verfahren gegen Nutarelli eingestellt, da gegen Tote nicht ermittelt werden darf.“

Das ist ohne Zweifel gesetzeskonform. Nur ist damit am Ende nichts darüber ausgesagt, was wirklich am Himmel über Ramstein den Unfall provoziert hat. Der Fall bleibt weiter völlig ungelöst. Dr. Paviotti zieht in seiner geblumigen Art den Schlußstrich unter den Fall: „Niemals wird der Grund für den Vorfall geklärt werden: menschlicher Irrtum, extremes Sicherheitsdenken (des Piloten wohl, d. Red.), Schwächeanfall, Sichtverlust, ein äußeres Hindernis, ja, man könnte als ausreichende Ursache sogar nur einen Vogel oder eine sekundenlange Blendung des Piloten annehmen: Irgendeine derartige ,undenkbare‘ Eventualität muß sich da bei einem Mann wie dem Oberst Nutarelli realisiert haben: einem Piloten, der als ,außerordentlich‘ bezeichnet wird, auch hinsichtlich des Charakters und seines seelischen Gleichgewichts, reif, vollkommen vertrauenswürdig und geradezu versessen auf seine perfekte physische Kondition.“

Warum man die wahren Ursachen niemals herausbringen wird, begründet der famose Ermittler allerdings nicht. Dabei scheinen doch selbst ihm ab und an gelinde Zweifel an den offiziellen Versionen der Unfallursache gekommen zu sein. So versieht er den — im Militärreport eingebrachten — Hinweis auf „mögliche Angst des Piloten vor Bäumen oder Lampenpfosten“ mit einem Ausrufungszeichen — die Maschine flog in nahezu 40 Meter Höhe. Und „verwundert“ äußert er sich auch über die Hypothese eines Ermittlers, der Unfall sei möglicherweise durch „mangelnde Erfahrung des Piloten“ zustande gekommen — Nutarelli war mit 4.500 Flugstunden einer der erfahrensten Piloten Italiens.

Nun gibt es selbstverständlich die juristische Möglichkeit, auch im Falle eines Verstorbenen die Angelegenheit weiterzuverfolgen — gegen Unbekannt, wenn zum Beispiel nur der leisteste Verdacht einer Fremdeinwirkung besteht. Dabei hätte einiges zu Tage gefördert werden können. Es sei erinnert an das Filmmaterial, das offenbar eine Disfunktionen der Solomachine dokumentiert sowie an die bis heute wiederholten Erklärungen von Kollegen Nutarellis, daß sie menschliches Versagen absolut ausschließen. Doch Paviotti hat dem nicht nachgehen wollen.