Kleinere Brötchen backen

■ Der jugoslawische Linksintellektuelle Svetozar Stojanovic plädiert dafür, die Nationen Jugoslawiens sollten ihren Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit aufgeben zugunsten einer beschränkten territorial-politischen Autonomie.

Professor Svetozar Stojanovic (60) ist einer der bekanntesten Intellektuellen Jugoslawiens. Als Mitglied der legendären Praxisgruppe, die das jugoslawische System einer scharfen Kritik unterzog, sollte er 1968 auf Titos Betreiben zusammen mit seinen Kollegen von der Universität gewiesen werden. Angesichts der Solidarität von Studenten und Professoren mußte die Partei die Selbstverwaltung an der Universität abschaffen, um ihr Ziel zu erreichen. Ein Jahr nach Titos Tod wurde die Gruppe rehabilitiert und im eigens geschaffenen „Zentrum für Philosophie und Sozialtheorie“ in die Belgrader Universität reintegriert. In den achtziger Jahren hielt sich Professor Stojanovic auch mehrmals zu Gastsemestern an der FU-Berlin und in Göttingen auf.

taz: Herr Stojanovic, wenn Sie jetzt zurückblicken auf Ihren Beitrag zur Kritik am politischen System Jugoslawiens und nun den Nationalismus sehen, das Aufkommen von Ustaschas, von Tschetniks und anderen verrückten Leuten, was denken Sie da eigentlich?

Stojanovic: Als ein Linker, ein Internationalist, bin ich etwas überrascht über die Größenordnung der Irrationalität und des Hasses. Auf der anderen Seite bin ich froh, daß ein System, das ich „Kommunistischen Etatismus“ nenne, am Ende ist. Wir, die Mitglieder der Praxisgruppe, haben dieses System selbstverständlich kritisiert, wir wollten nicht nur Liberalisierung sondern die Demokratisierung in Jugoslawien durchsetzen. Es geht um das Ende des kommunistischen Etatismus, andererseits geht es um etwas, was ich den „Postkommunismus“ nenne, das ist eine Übergangsperiode, die nicht richtig definiert ist und viele Widersprüche in sich birgt.

Auf philosophischem, theoretischen Gebiet durchlief ich eine Evolution vom Marxismus zum Postmarxismus, der selbstverständlich keinen Antimarxismus bedeutet. Im Vergleich zu meiner früheren revisionistisch-marxistischen Phase jedoch gibt es viele Diskontinuitäten.

Viele Linke im Westen und Osten sind verunsichert nach der Implosion der kommunistischen Systeme, manche sehen ihre Identität verloren. Was bedeutet in diesem Bezugsrahmen der Begriff des Postmarxismus?

Er bedeutet eine bestimmte Phase für Marxisten — für Nichtmarxisten ergibt der Begriff keinen Sinn, es geht um eine immanente Evolution — in der Revision des Marxismus, in der die Revision so radikal geworden ist, daß der Begriff Revisionismus nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Der Trennungstrich begann für mich etwa vor zehn Jahren. Wir revisionistische Marxisten akzeptierten die Idee, daß anstatt die Aufhebung der Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat zu betreiben — eine originär marxistische These — diese Trennung viel erhalten bleiben müßte. Die zweite Phase begann, als wir sahen, daß diese bürgerliche Gesellschaftssphäre ganz offen gesagt kapitalistische Elemente haben muß, nicht nur den Markt, die Konkurrenz, das Profitmotiv, einen Pluralismus von Eigentumsformen etc. Das hat nichts mehr mit revisionischen Marxismus zu tun.

Heute befindet sich Jugoslawien in einer Sitation, in der Pluralismus hergestellt ist, aber noch nicht die Marktwirtschaft, die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft wird postuliert, ist aber noch nicht vollzogen. Gleichzeitig setzen sich rückwärtsgewandte ideologische Muster wie der Nationalismus durch, so daß es fraglich erscheint, ob sich die Idee einer zivilen Gesellschaft überhaupt behaupten kann.

In der Tat ist es eine Tragödie, daß die kommunistische Macht nach dem Kriege die letzten Reste der bürgerlichen Gesellschaft eleminiert hat. Die bürgerliche Gesellschaft wieder herzustellen ist zum Kampf mit der Zeit geworden. Die ethnisch-nationalistische Logik steht im Widerspruch zum Konzept der zivilen Gesellschaft, es besteht in der Tat die Frage, ob wir irgendwelche rationalen Lösungen im Rahmen von Jugoslawien finden können. Was die Demokratie und die Marktwirtschaft betrifft, geht es in einem gewissen Sinne um einen Universalismus. Ethnos dagegen ist ein Partikularismus. Immerhin geht es in Jugoslawien aber auch darum, wie man die beiden Prinzipien kombinieren kann, die Nationalitätenfrage muß in der Staatsorganisation eine große Rolle spielen.

Wenn ich mir die konkrete politische Landschaft angucke, frage ich mich, wo denn die Kräfte sind, wo denn die Möglichkeiten, ja vielleicht sogar die objektiven Notwendigkeiten liegen könnten, die zu demokratischen und menschlichen Lösungen führen.

Wenn man die jugoslawische Realität, die innere und äußere, analysiert, dann sieht man trotz des gegenteiligen äußerlichen Eindrucks viele objektive Faktoren, die in Richtung auf eine gewisse jugoslawische Integrierung wirken. Wir sind ethnisch so gemischt, daß abgesehen von Slowenien, es überhaupt physisch unmöglich ist, uns voneinander zu separieren. Die internationale Lage ist zudem heute wesentlich günstiger als früher. Heute gibt es keinen Hitler, Mussolini oder Stalin mehr. Wir müssen einen Kompromiß finden zwischen zwei Traditionen und zwei Ambitionen, zwei Arten von Interessen in diesem Land. Es handelt sich bei den jugoslawischen Völkern um sogenannte verspätete Nationen, deren Geschichte nicht immer parallel verlief. Serbien und Montenegro sind viel früher als unabhängige Staaten entstanden, und haben diese Unabhängigkeit in den neuen Staatsverband mit eingebracht, während andere Nationen unter österreichisch-ungarischer oder türkischer Herrschaft verblieben waren. Als Ergebnis dieses Unterschieds haben wir legitime Ansprüche von einigen Nationen, unabhängige Staaten zu werden. Auf der anderen Seite sind Serben verstreut in anderen Republiken, Bosnien-Herzegowina, Kroatien etc. Jetzt muß man irgendwie einen Kompromiß finden. Ich plädiere dafür, die administrativen Grenzen nicht zu ändern. Jugoslawien sollte aber dezentralisiert werden. Wenn es um ethnische Minderheiten geht, kann man rational über Autonomie diskutieren.

Die sechs oder fünf Republiken — Slowenien könnte möglicherweise als einzige Republik aussteigen, weil die ethnische Zusammensetzung nicht zu Konflikten führt — sollten eine dezentralisierte jugoslawische Gemeinschaft, die international anerkannt ist, bilden. Die Republiken sollten einen gewissen Teil ihrer Souveränität an den Bund im Rahmen von vier Bereichen delegieren: Verteidigung, Außenpolitik, Wirtschaft und Zentralbank. Für die Wirtschaftsreform bedarf es eines Bundesstaats, auch für die Garantie des freien Verkehrs. Darüber hinaus muß der Bundesstaat auf der jugoslawischen Ebene eine gewisse Macht haben, die Bürger- und kollektiven Rechte der Minderheiten zu garantieren.

Also keine volle Souveränität für die Republiken...

Bei der Souveränität geht es auch um Symbole und Mystifizierungen. Eines muß klar sein: Wenn es Jugoslawien nicht mehr geben sollte, stellt sich die Fragen nach den Grenzen. Wenn nun Nationalstaaten geschaffen werden, müssen die Minderheiten ebenfalls reagieren. Manche wollen dann auch souverän werden.

Wenn es zu keiner Übereinkunft kommt, könnte es doch noch zum Krieg kommen.

Ich habe nie geglaubt, daß es zu einem Krieg kommt, aber sicherlich zu lokalen Konflikten, die auch Opfer fordern werden. Bei einem Krieg wäre die ethnische Desintegrierung des Militärs vorausgesetzt, und die sehe ich nicht.

Was geschieht mit den Albanern und den Muselmanen in Ihrem Konzept?

Der zentrale Konflikt ist zur Zeit der serbo-kroatische. Ich meine, daß die slawischen Mohammedaner in Bosnien-Herzegowina ein Interesse haben, im Rahmen eines demokratischen Jugoslawien zu leben. Was die Mazedonier betrifft, glaube ich nicht, daß es eine große Zukunft für Mazedonien außerhalb Jugoslawiens gibt. Die demographische Situation ist sehr kompliziert, denn dort gibt es Mazedonier, Serben, Kroaten etc. Und dann natürlich die große albanische Minderheit. Diese Problematik ist nicht nur auf Kosovo beschränkt, auch in Westmazedonien und Teilen von Montenegro leben Albaner. Deshalb möchte ich diese Problematik in ihrer Komplexität diskutiert wissen. Bis 1981 war Kosovo eine De-facto-Republik mit weitreichenden Rechten, aber de jure eben keine. Die Albaner in Kosovo wollten mehr als das, sie wollten, vor allem 1981, nach Titos Tod, eine eigene Republik. Deshalb entwickelte sich ein politischer Kampf im Rahmen von Serbien und Jugoslawien. Was die Albaner nicht bemerkt haben ist, daß es damals schon keinen Tito, also keinen Oberschiedsrichter mehr gab. Unter diesen Verhältnissen ziehen die Schwächeren das kürzere Los. Der politische Kampf um die Verfassung dauerte mehrere Jahre. Die Albaner im Kosovo haben nicht nur die Perspektive auf eine De- facto-Republik verloren, sondern auch gewisse Dimensionen der territorial-politischen Autonomie. Meine prinzipielle Lösung auf lange Sicht wäre, daß eine gewisse territorial-politische Autonomie geschaffen werden muß, aber nicht nur in Serbien, sondern auch in Montenegro, in Mazedonien, auch für Serben in Kroatien, für Istrier, usw.

Es ist allerdings mehr als fraglich, ob sich die Albaner in Kosovo oder anderswo mit einem Konzept der Kantonisierung abfinden würden.

Sicherlich kommt die schweizerische Lösung nicht in Frage, weil wir die Tradition der Republiken haben. Man könnte das Kanton- oder Regionenkonzept kombinieren mit den Republiken und der jugoslawischen Gemeinschaft. Positionen, die Grenzveränderungen beinhalten, sind unrealistisch, auch wenn sich die innenpolitische Situation in Albanien verändert hat. Ethnisch gemischte Bevölkerungen sind nämlich nicht so leicht in friedlicher Weise auseinander zu dividieren.

Dieses Ziel setzt nun wiederum die Utopie der Kompromißfähigkeit bei den politischen Eliten der einzelnen Republiken voraus.

Dazu brauchen wir die entsprechenden Institutionen. Die Treffen der sechs Präsidenten der Republiken helfen da auf Dauer nicht weiter. Als Politiker sprechen die Präsidenten immer für das Publikum ihrer Republik. Kompromißbereitschaft wird so zu Hause nicht honoriert, wie in den letzten Tagen zu sehen ist. Deshalb muß die Kompromißlösung von der Bundesregierung kommen. Und ich glaube, sie wird schon vorbereitet und unterstützt von den demokratischen Kräften in Europa.

Ist denn der Druck von außen, von den USA oder der EG, wirklich wünschenswert?

Von außen sollte Hilfe kommen, auch für die Diskussion. Mit Minimalbedingungen für den Status eines assozierten Mitglieds der EG könnten die Widersprüche im Lande selbst entschärft werden. Maßstäbe und Kriterien würden internationalisiert. Die EG sollte verstehen, daß die Integrierung Jugoslawiens und damit auch die Lösung der inneren Schwierigkeiten des Landes ein Prozess ist, in den sie konstruktuv eingreifen kann.

Diese Rahmenbedingungen schließen Menschenrechte und kollektive Rechte von Minderheiten mit ein.

Wenn man universalistisch vorgeht, wenn man sagt, es gibt Probleme mit nationalen Minderheiten überall, nicht nur in Serbien, dann wäre etwas gewonnen.

Sie fordern also geradezu den äußeren Druck. Es müßte doch aber auch Kräfte im Inneren Jugoslawiens geben, die aus ihren Interessen heraus für einen Kompromiß eintreten? Durch die nationalistischen Konflikte ist eine Wirtschaftskrise ausgelöst worden, unter der alle zu leiden haben. Es kam zu Streiks, die Arbeiterbewegung fängt wieder an, sich zu rühren. Ist doch noch etwas vom Bewußtsein der Arbeiterselbstverwaltung geblieben?

Der Streik in Bosnien-Herzegowina während der ersten Juniwoche, der fast den Charakter eines Generalstreiks annimmt, hat die Politiker dort mit dem Vorwurf konfrontiert, über den Nationalismus die Ökonomie vergessen zu haben. In Kroatien ist der Tourismus zum erliegen gekommen, zwei Milliarden Dollar Einbußen sind zu erwarten. Schon im Herbst müßte man die neue Saison vorbereiten. Jetzt ist es an der Zeit, die Frage nach der politischen Verantwortung in allen Republiken für die tiefe ökonomisch-soziale Krise zu stellen. Man kann nicht mehr alles mit dem Titoismus entschuldigen, auch die neuen Politiker haben schon ihren Teil der Verantwortung für die jetzige Wirtschaftskatastrophe.

Es gibt allerdings viele Parteien, die nicht nur gegen Selbstverwaltung sind, sondern gegen jede Partizipation. Aber die Tradition der Selbstverwaltung ist doch so tief verankert, daß man künftig zumindest die Mitbestimmung nicht eleminieren kann. Zweitens gibt es etwas, was sich zusammenknüpft mit dieser Nationalitätenproblematik, nämlich, daß ein Kapitalismus ohne irgendwelche Kontrolle eine gewisse Kolonisierung des Landes beinhalten könnte, und das stößt auf den Widerstand der nationalen Identität. Selbstverständlich muß man sich öffnen und von Europa integrieren lassen, aber Jugoslawien muß die Endkontrolle über die eigene Wirtschaft behalten.

Diejenigen, die mit radikaler Privatisierung quasi über Nacht gerechnet haben, sind enttäuscht worden. Die Arbeiterklasse akzeptiert so etwas nicht. Typisch ist die Antwort der Beschäftigten: Unser Betrieb ist eine Akkumulation unserer Arbeit, die man nicht so einfach verschleudern kann. Diese Argumentation enthält aber eine gewisse Ambivalenz. Wenn die ökonomische Situation in einer Firma gut ist, dann betrachten alle Beschäftigten diese Fabrik als ihr Eigentum. Wenn es schlecht geht, dann fordern sie Subventionen vom Staat. Gleichwohl tendieren die Interessen der Arbeiter zu einem demokratischen Kompromiß. Die ersten Anzeichen davon sind, daß einige Gewerkschaftsgruppen mit einem umfassenden Generalstreik in Jugoslawien drohen, wenn die nationalistischen Spannungen nicht aufhören. Ich glaube, schon in der nächsten Zeit wird sich doch wieder eine Balance zwischen der Nationalitätenfrage und der sozialen Frage herstellen. Ich habe den Eindruck, daß zumindest in Serbien der Höhepunkt der nationalistischen Homogenisierungsbestrebungen seit zwei oder drei Monaten überschritten ist. Auch in Kroatien gibt es dafür erste Anzeichen. Wie gesagt, der Nationalismus steht im Widerspruch zur sozialen Marktwirtschaft.

Ich habe den Eindruck, daß ihr früher gebrauchter Begriff von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz jetzt durch den Begriff eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz ersetzt wird. Ist denn der Entwurf eines Gesamtsystems heute überhaupt noch zulässig?

Kapitalismus mit sozialdemokratischem Antlitz oder Sozialismus mit kapitalistischem Antlitz sind paradoxe Formulierungen, mit denen ich nicht mehr umgehen kann. Es kann keine Modelle mehr geben. Im Unterschied zum klassichen marxistischen Begriff der ökonomischen Formation spreche ich jetzt von der Kombination widersprüchlicher Organisationsprizipien. Philosophisch ausgedrückt müssen wir jetzt mit einer Dialektik der Erhaltung von Widersprüchen rechnen, statt mit einer Dialektik der Aufhebung dieser Widersprüche. Wie soll es weitergehen, wenn die gesamte Menschheit die kapitalistische Produktionsweise akzeptiert und damit die ökologische Zerstörung? Wir stellen uns doch als Gattung in Frage. Dies ist eine Neuerung in meiner Philosophie. Ich operiere jetzt mit einem Begriff der „apokalyptischen Umkehrung“. Wir sind seit 1945 in einer absolut neuen Situation, weil wir uns als Menschheit vernichten können. Wenn die Sowjetunion sich gewaltsam auflösen würde, bestünde tatsächlich die Möglichkeit einer apokalyptischen Katastrophe. Wenn man diesen Standpunkt einnimmt, dann sieht man auch in Jugoslawien manches anders als zuvor. Interview: Erich Rathfelder

Veröffentlichungen: Kritik und Zukunft des Sozialismus,München 1970;

Geschichte und Parteibewußtsein, München 1977;

Perestroika from Marxism and Bolshevism to Gorbatshev;

In Vorbereitung: Implosion des Sozialismus und Postkommunismus.