Ex-DDR keine Hochburg des Antisemitismus?

Studie der Universität Erlangen-Nürnberg rechnet sechs Prozent der DDR-Bevölkerung zum harten antisemitischen Kern/ Beschönigende Ergebnisdarstellung/ Schlechte wirtschaftliche Lage könnte zu unvorhersehbarer Radikalisierung führen  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Der „harte Kern“ antisemitisch orientierter Personen umfaßt in den fünf neuen Bundesländern sechs Prozent der DDR-Einwohner. Die Ablehnung „ethnisch auffälliger Bevölkerungsgruppen“, wie zum Beispiel „Asylanten, Neger, Israelis, Vietnamesen und Juden“ ist stark ausgeprägt. Zu diesem Ergebnis kommt eine im April 1991 abgeschlossene repräsentative Umfrage des Lehrstuhls für Soziologie der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Wissenschaftler ziehen daraus den Schluß, daß die neuen Bundesländer „keineswegs Hochburgen des Antisemitismus“ seien, sehen aber auch die Behauptung widerlegt, daß „der Antisemitismus in der DDR vollständig ausgemerzt“ (!) worden sei. Die Bürger der Ex-DDR seien „weniger antisemitisch eingestellt als ihre Landsleute im Westen“.

Die Erhebung ist die erste repräsentative Bevölkerungsumfrage in der ehemaligen DDR zum Thema Antisemitismus. Von 1.000 repräsentativ ausgewählten DDR-Bürgern gaben 898 Personen die Fragebögen ausgefüllt wieder zurück. Zusätzlich befragten die Soziologen im Rahmen einer Vollerhebung die Schüler der Klassenstufen 9 bis 13 an allgemein- und berufsbildenden Schulen in Jena. 2.380 auswertbare Fragebögen wurden in die Analyse miteinbezogen.

Die sogenannte Antisemitismus- Skala der Studie setzte sich dabei aus der Anzahl tendenziell antijüdischer Antworten (zum Beispiel „Mit Juden will ich nichts zu tun haben“ oder „Juden sind habgierig und rücksichtslos“) zusammen. Die Personen, die neun und mehr Antworten mit antisemitischer Tendenz abgegeben hatten, bezeichnen die Wissenschaftler als „harten Kern“ antisemitisch orientierter Personen. Sechs Prozent der Bevölkerung und 8,8 Prozent der Schüler fallen unter diese Kategorie. Fast 40 Prozent aller Befragten waren demnach „völlig vorurteilsfrei“, sie hatten keine der Antworten angekreuzt. Von diesen 40 Prozent bezweifeln jedoch — laut Studie — elf Prozent den Holocaust.

Studie beschönigt Ergebnisse

Zu dem Ergebnis, daß man „vier Fünftel der Bewohner der ehemaligen DDR als völlig oder weitgehend vorurteilsfrei gegenüber Juden“ bezeichnen könne, kommt die Studie, indem sie Personen, die bis zu drei Antworten angekreuzt hatten, in diese Kategorie miteinbezieht.

Die aus dem gleichen Datenmaterial mögliche Schlußfolgerung, daß 60 Prozent der DDR-Bevölkerung Vorurteile gegenüber Juden haben, ziehen die Soziologen nicht. Durch die gesamte Studie zieht sich ein Hang zu positiven und beschönigenden Ergebnissen. So ist es in der Ergebnisdarstellung und -interpretation der von der Alfried-Krupp-von Bohlen-und-Halbach-Stiftung, der Daimler-Benz-AG und der Robert- Bosch-Stiftung gesponserten Untersuchung den Soziologen keine besondere Erwähnung wert, daß 10,9 Prozent der Bevölkerung und 20,2 Prozent der Schüler fordern, alle Juden sollten nach Israel gehen, und 10,9 Prozent der Bevölkerung und 15,3 Prozent der Schüler der Aussage uneingeschränkt zustimmen, daß es Fehler gebe, „die den Juden im Blut“ lägen. Bei der Untersuchung der Vorbehalte gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen trennen sie sogar Israelis und Juden. Während 47,9 Prozent der DDR- Bürger nichts mit Homosexuellen, 31,7 Prozent nichts mit Kommunisten und 19,8 Prozent nichts mit „Asylanten“ zu tun haben wollen, rangieren Israelis mit 15,9 Prozent und Juden mit acht Prozent daher am Ende der Skala. Unter dem Strich kommt die Studie jedoch zu dem Ergebnis, daß die Ablehnung „ethnisch fremder Gruppen wie Juden, Israelis, Neger, Asylanten und Vietnamesen“ ein in sich konsistenteres und homogeneres Antwortmuster darstelle als die Ablehnung von Gruppen aufgrund von politischen und sozialen Vorbehalten. Wie stark DDR- Bürger den jüdischen Einfluß in der Gesellschaft überhöhen, zeigt sich darin, daß 40 Prozent glauben, daß bis zu 100.000 Juden in der Ex-DDR leben. Weitere 30 Prozent gehen von einer Million und zehn Prozent gar von mehreren Millionen aus. Real leben nach Schätzungen jedoch nur 4.000 Juden in der Ex-DDR.

Am Ende der Ergebnisdarstellung warnen die Nürnberger Soziologen vor dem von ihnen selbst entworfenen „relativ positiven Bild“ der Studie über erwachsene und jugendliche Bürger der ehemaligen DDR. Dies dürfe nicht den Eindruck erwecken, daß in der DDR „eine Immunität gegenüber antisemitischen Ressentiments“ vorläge. „Insbesondere die wirtschaftlich katastrophale Lage der Menschen in den neuen Bundesländern könnte zu unvorhersehbaren Radikalisierungen — natürlich nicht nur Juden gegenüber — führen.“