Diktatur des Glücks

■ Im kalifornischen Disneyland wird die Kulisse zur Wirklichkeit erklärt

Im kalifornischen Disneyland wird

die Kulisse zur Wirklichkeit erklärt

VONTILLBARTELS

In der Morgensonne leuchtet schon von weitem der weiße Matterhorngipfel. Über Nacht muß es geschneit haben. An der Kreuzung von Interstate 5 und Harbor Boulevard liegt der Vergnügungspark Disneyland, knappe 50 Kilometer südlich des Stadtzentrums von Los Angeles. Außer dem Plastikgebirge mit dem frischen Kunstschnee nimmt man zunächst nur die Automassen wahr. Die Besucherströme fädeln sich während der frühen Vormittagsstunden in die nie ganz zum Stehen kommende Autoschlange vor den Kassenhäuschen ein und verteilen sich rasch auf einem riesigen Parkplatz, dessen Ausmaße mehrere Fußballfelder umfassen. Per Kleinbus werden die letzten hundert Meter bis zum eigentlichen Eingang zurückgelegt. Die kleinen Markierungsschilder an den Lampenmasten gilt es sich einzuprägen, denn ohne die Bambi-, Pinocchio- und Mickey-Mouse-Zeichen findet am Abend keiner seinen Wagen wieder.

Das kalifornische Disneyland hat an 365 Tagen im Jahr geöffnet. Selbst an den Amerikanern heiligen Feiertagen wie Thanksgiving, wo die meisten Museen geschlossen sind, gelten hier sogar verlängerte Öffnungszeiten. Das „Magical Kingdom“ kennt keinen Ruhetag und behauptet von sich, der glücklichste Platz auf Erden zu sein. Das magische Reich von König Disney schließt das Negative aus, die kleinen und großen Sorgen des Alltags bleiben draußen. Disneyland spielt eine heile Welt vor und will die Ausnahme von der Regel sein. Hinter den Toren wartet die Erfüllung des amerikanischen Traums, hier wird er dreidimensional, begehbar und begreifbar. Es ist wie der imaginierte 51. Bundesstaat der Vereinigten Staaten, der „Fun State“.

Das Visum für einen Tagesbesuch bekommt jeder an Ort und Stelle ausgestellt: 25 Dollar für Erwachsene, Kinder müssen 20 Dollar für den „One Day Passport“ berappen. Dieser Preis schließt die kostenlose Benutzung aller Attraktionen ein. In den Restaurants und Souvenirshops wird auch mit „Disney-Dollars“ abgerechnet, denn der Vergnügungsstaat verfügt sogar über eine eigene Währung. Der Umtauschkurs liegt seit Jahren konstant bei 1:1.

Über 300 Millionen Besucher bummelten seit 1955 durch die „Main Street USA“, die Hauptstraße Disneylands. Kein breiter Boulevard, sondern eine Dorfstraße, hinter deren Fassaden die verschiedensten Mickey-Mouse-Läden locken. In dieser Dorfstraße bewegt man sich — ganz unkalifornisch — ohne Auto. Als Walt Disney in den fünfziger Jahren diese Fußgängerzone bauen ließ, stand das Dorf Marceline in Missouri Pate, wo er mehrere Jahre seiner Kindheit um 1900 verbrachte. Der Straßenzug wirkt wie eine „home town“, ist jedoch nichts anderes als eine Kulisse mit sich nach oben verjüngenden Stockwerken. Diese Einkaufsgasse leitet zum „Sleeping Beauty Castle“ am Fuße des Plastik- Matterhorns, von dem sich zwei Bergsteiger abseilen.

Künstliche Natur, alles beherrschende Technik

Im Inneren des Neuschwanstein- Schlosses drücken sich kleine Mädchen am Fensterglas der Diaramen ihre Nasen platt: Es zeigt die einzelnen Stationen auf dem Prozessionsweg von Aurora, die auf ihren Märchenprinzen wartet, um wachgeküßt zu werden. Die schlafende Schönheit wurde wie aus einem Märchen der Gebrüder Grimm aufbereitet — halb Barbie Puppe, halb Schneewittchen.

Vom Schloßplatz aus, dem „Central Plaza“, führen die Wege zu den anderen Themenparks: Adventure-, Frontier-, Fantasy- und Tomorrowland. Gleich um die Ecke liegt das Abenteuerparadies, wo sich Amazonas, Kongo und Nil zu einem Phantasiefluß vereinigen. Ein Boot nimmt die Touristen auf und verschwindet zur „jungle cruise“ im Urwald. Im passenden Moment tauchen Krokodile und Flußpferde auf und schnappen nach den Handtaschen der Damen. Wilde Affen kreischen im Hintergrund. Perfekter kann die künstliche Natur mittels der Technik nicht beherrscht werden.

Dann geht die Reise durch den tiefen Süden der USA zum „New Orleans Square“ und zu den Ufern des Mississippi, wo Mark Twains Raddampfer zu den Piraten der Karibik ablegt. Zwar zieht sich dort eine Warteschlange, im Gegensatz zu vielen anderen Attraktionen gelangen die Passagiere aber schnell an Bord. Bei großem Andrang sticht auch die „Columbia“ in See und verdoppelt die Kreuzfahrtkapazität in den Gewässern von Tom Sawyer Island und Fort Wilderness.

Ein alter Bummelzug rast mit Achterbahngeschwindigkeit in den Wilden Westen. In drei Minuten fliegt die Geschichte des Goldrausches und der Eroberung vorbei, inklusive Erdbeben und herabfallender Felsbrocken.

Doch nicht nur Vergangenheit wird in Disneyland aufbereitet, ebenso die Zukunft: Im „Tomorrowland“ schaffen technische Spielereien eine nervenkitzelnde Vision der Zukunft. Die vielen Stationen sind auch Vorläufer für das Epcot Center in Florida, wo das Imaginäre im jüngeren und größeren Disneyworld noch ausgereifter präsentiert wird. George Lucas' „Star Tours“ — nicht zu verwechseln mit „Star Trek“ oder „Star Wars“ — fungiert als kollektiver Flugsimulator, und der „Space Mountain“ katapultiert Zukunftsgläubige in den Weltenraum. Der Trip geht durch die Dunkelheit der Milchstraße. Nur an blitzenden Sternen kann man sich orientieren — ein Flug ins Ungewisse, eine Folter in der Finsternis: Die abrupten Richtungsänderungen zerren am Magen und entlassen sogar zentrifugenerfahrene Astronauten mit weichen Knien. Ängstliche phantasieren unterwegs eine zweite Challanger Katastrophe. Für eingefleischte Rollercoster-Fans gibt es jedoch noch härtere Tests in Kalifornien zu bestehen, wie die Loopings in „Knott's Berry Farm“ oder der „Koloss“ im Park „Magic Mountain“ bei Angeles. Unter Disneylands Achterbahnen ist „Space Mountain“ aber die mit Abstand wildeste. Kleinen Kindern und „senior citizens“ mit Herzschrittmachern wird von der Reise abgeraten.

Bequem im Sessel sitzend, geht es gleich nebenan mit dreidimensionaler Brille in das Reich von „Captain EO“. Im 700 Personen fassenden Kinosaal wird den ganzen Tag hindurch immer dasselbe intergalaktische Rock-Video an die Leinwand projiziert. Michael Jackson spielt, tanzt und singt in dem Musical die Hauptrolle und bekämpft das Böse. Dabei hilft ihm Hollywood mit allen Filmtricks, die Regisseur Francis Coppola ersinnen konnte. Selbst im Zuschauerraum zuckt Laserlicht, Gegenstände fliegen auf das Publikum zu, die optische Täuschung ist perfekt. Am Ende siegt natürlich das Gute.

Die „Mission to Mars“ hieß früher einmal „Flight to the Moon“. Die Gegenwart, die heute längst Vergangenheit ist, hatte in den späten sechziger Jahren die Zukunftsvorstellungen aus den späten fünfzigern eingeholt. Bis heute sind die Effekte dieses simulierten Fluges dieselben geblieben, wahrlich ein bereits historisches Kapitel.

Mief und imperiale Weltsicht der Fünfziger

Disneyland ist inzwischen in die Jahre gekommen. Als Paradebeispiel für den Alterungsprozeß gilt die Bootstour „It's a Small World“, der Puppenalptraum einer zehnminütigen Weltumrundung. Dabei wechseln Kostümierung und Musik mit jedem Land ab, ein Klischee wird ans nächste gereiht. Der ganze Mief und die imperiale Weltsicht aus den fünfziger und sechziger Jahren blüht auf.

Damit der Fun-Park nicht in die Midlife crisis kommt, wird er dauernd renoviert. Das begrenzte Raumangebot kann jedoch nicht beliebig erweitert werden. Manche Teile müssen deshalb abgerissen werden, um neuen Attraktionen Platz zu machen. So zum Beispiel für den „Splash Mountain“, eine halbe Meile lang Wasserbahn durch Höhlen und Sümpfe. Die Szenerie und die hundert Figuren, darunter die audio- animierten Charaktere Brer Rabbit, Brer Fox und Brer Bear, entstammen dem Walt Disney Film „Song of the South“ von 1946. Dazu kommt die bekannte Musik „Zip-A-Dee-Doo- Dah“, in deren Crescendo die Fahrt durch den „Splash Mountain“ gipfelt — Disneylands neue Nationalhymne.

Wo vor 50 Jahren noch Orangenhaine standen, blüht heute auf 30 Hektar das bis ins Detail durchgestylte Disneyland. Um das Areal wuchs ein ganzer Stadtteil mit Motels und entsprechender Infrastruktur. Zu Disneys Imperium im Orange County gehören auch das Hotelschiff Queen Mary und die „Spruce Goose“, das hölzerne Flugboot von Howard Hughes in Long Beach. Andere Themenparks wie „Knott's Berry Farm“, die Heimat von Snoopy und den Peanuts in Buena Park und ein „Movieland Wax Museum“ liegen praktisch um die Ecke. Ein Konzern der Unterhaltungselektronik aus Japan plant in naher Zukunft einen weiteren Freizeitpark der Superlative: Sonyland.

Künstlich, moralinsauer und sauber

Wer in einem stillen Winkel Disneylands Verbotenes zu sich nimmt, der wird garantiert geschnappt. Schon Alkohol gilt als Droge, ja selbst Bier wird in keinem Restaurant ausgeschenkt. Nur das Rauchen von Zigaretten ist noch nicht verboten. Den zahllosen Videokameras entgeht nichts: Big Brother ist watching you. Disneyland ist auch ein gläsernes Reich. George Orwells Roman „1984“ wurde bereits in den fünfziger Jahren Wirklichkeit; hier herrscht die Diktatur der Happyness.

Sauberkeit ist oberstes Prinzip, vom Müll bis zur Moral. Das funktioniert nur durch die unterirdische Ebene Disneylands, von deren Existenz kein Besucher etwas erfährt. Hier liegen die Umkleidekabinen der Mitarbeiter, deren Kostümfundus, die Küchen und Vorratskammern, in denen sich keine Mäuse verstecken, sondern ein Heer von Teenagern, das wie Ameisen im Schichtdienst arbeitet. Ohne sie könnte die „Magical Dream Machine“ nicht funktionieren.

Wenn hinter dem Matterhorn die Sonne untergeht und der Himmel sich von orangerot zu dunkelblau verfärbt, schlägt an lauen Sommerabenden die Stunde der „Electrical Parade“. Metallische, vom Synthesizer erzeugte Musik plätschert durch die Main Street, und vierzig verschiedene Disney-Filmbilder defilieren in Richtung Ausgang. Unter dem Funkeln einer halben Million farbiger Glühbirnchen treten die Figuren, die man bisher nur von der Leinwand kannte, in die Nacht hinaus. Mickey und Minny Mouse, Schneewittchen, Pluto, Peter Pan und Schweinchen Schlau nehmen ein Bad in der Menge, die Helden der Reproduzierbarkeit werden lebendig und schütteln Hände. Feuerwerkskörper schießen in die Höhe. Das ist nicht nur Kino zum Anfassen, sondern jetzt wird endgültig die Kulisse zur Wirklichkeit erklärt.

Über das magische Königreich senkt sich langsam die Nacht, und der Mond steigt in den Abendhimmel hinauf. Oder ist die leuchtende Scheibe, die über dem Matterhorn steht, auch nur ein „special effect“?