SOZIALWISSENSCHAFTLICHES GLOSSAR ZUR FUSSBALLSAISON 1990/91
: Graue Panther, atheistische Selbstgefälligkeit und ein Dogenproblem

■ Prof. Ball und Dr. Goal unternehmen einen abenteuerlichen Streifzug durch die Abgründe und Höhenzüge der Bundesligasaison, die heute unwiderruflich zu Ende geht

Anlageberatung: Ob die Anteilsscheine des HSV eine Geldanlage, gar Aktien sind oder nur bunte Blätter für Liebhaber, ist genauso offen wie die Frage, wie es HSV- Präsident Hunke gelingen konnte, dem Senat der Hansestadt eine Bürgschaft in mehrfacher Millionenhöhe abzuschwatzen. Eine seriöse und begrüßungswerte Äußerung von Hunke ist allerdings übermittelt: „Ich hasse weiße Socken!“ Über den Rest wird die Geschichte zu richten haben.

Drogenproblem/Absolutismus: „Keine Macht den Drogen“, fordern unsere Nationalspieler Klinsi, Rudi und Lothi von schicken Plakaten herab mit duften Sprüchen. Recht haben sie. Und der Diego hätte es besser mal beherzigt, anstatt der Mafia die gesamten Kokainbestände wegzuschnupfen. Aber in Italien gibt es solch vorbildliche Aktionen eben leider nicht, obwohl sich der DFB doch im Land, wo die Zitronen blühen, inspirieren ließ. Hieß es doch 1797 in Venedig endgültig: Keine Macht den Dogen!

Euro-Norm: In Stuttgart wächst ganz gut zusammen, was schon immer zusammengehörte. Die neue S-Klasse des VfB Stuttgart fährt jedenfalls so prächtig mit den Trabi-Teilen eines Matthias Sammer, daß sie wohl gleich in Europa angekommen ist. Mehr Schwierigkeiten mit der Euro-Norm schaffte die Integration von Buna bei Bayer. Trotz Kirsten und Thom darf in Leverkusen weiterhin mittwochs gekegelt werden, anstatt am lästigen Europa- Cup teilzunehmen. Weiterhin: „Gut Holz!“

Gottesgnadentum: Im Pokalhalbfinale gegen Duisburg ließ Kölns Trainer Erich Rutemöller den Papst den Papst sein und schwang sich für einen kurzen Moment zum Stellvertreter des Herrn auf Erden auf: „In Gottes Namen, mach'et, Otze!“ Und wie er es machte, der Ordenewitz. Ball wegmachen, rote Karte machen, Pokalfinale Berlin machen — gemacht. Nur der DFB machte nicht mit. In zutiefst atheistischer Selbstgefälligkeit wurde Otze von den heiligen 90 Minuten des Pokalfinales weggesperrt. Amen!

Hauptstadtfrage: Ob Bonn oder Berlin Hauptstadt sein soll, konnte auch auf den Fußballplätzen der Republik nicht schlüssig geklärt werden. Das völlige Versagen von Hertha BSC schien zwar zum eindeutigen Votum für Bonn zu geraten, aber am vorletzten Spieltag stellte sich heraus, daß auch die Stadt am Rhein ihre historische Chance verpaßt hatte: Der Bonner SC stieg in die Verbandsliga ab. Schade!

Karenztag: Neue Wege zeigten die Kicker von Eintracht Frankfurt in der aktuellen Diskussion ums sogenannte „Blaumachen“ auf. Beim 0:6 gegen den HSV arbeiteten sie ganz gelassen nicht, lösten damit in Umkehr aller bisherigen Gepflogenheiten die Entlassung ihres Chefs, Trainer Berger, aus und wurden zum Schrecken von Arbeitgeberverbänden und Bundesregierung. Revolutionär!

Öffentlicher Nahverkehr: Auch Fußballfans bekennen sich immer militanter zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und fordern das inzwischen auch lautstark von den Aktiven der Bundesliga: „Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht. Fahr Bus und Bahn! Fahr Bus und Bahn!“

Persönlichkeit: Beinhart wie er ist keiner. Schiedsrichter-Professor Dr. Umbach, in einschlägigen Kreisen auch als der „Eiserne Wolf-Rüdiger“ bekannt. Am Betzenberg vom Feuerzeug eines Lautern-Fans niedergestreckt, blies er im Fallen noch schnell zur Spielunterbrechung, ließ sich von seinem Linienrichter noch einmal kurz anzählen, schüttelte dann bullenwild mit dem Kopf und konterte das Spiel brutal aus. Er pfiff es wieder an. Respekt!

Resozialisierung 1: Michael Schulz, Wassereimer und Gegner umtretender Expolizist in Diensten von Borussia Dortmund, der nach etlichen Disziplinarstrafen schon flehentlich einen Psychologen um letzten Rat anging, wurde vom DFB auf den Pfad der Tugend zurückgeführt. Sein Fachwissen darf er inzwischen als Beisitzer beim DFB-Sportgericht einbringen. Ein Beispiel, das Schule machen sollte!

Resozialisierung 2: Auch der VfL Bochum arbeitete integrativ. Rolf Schafstall, während mehrfach ungünstiger Abstimmung von Autofahren und Alkoholgenuß im Triplesprung von Schalke über Uerdingen nach Osnabrück in der endgültigen Arbeitslosigkeit gelandet, durfte zur nicht zuletzt eigenen Überraschung im Ruhrstadion an alter Wirkungsstätte den Retter spielen. Er dankte es mit gediegenem Auftreten im stahlblauen Zweireiher und den Worten: „Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.“

Schuldentilgung: Einen ganz neuen Weg, die aus den Fugen geratene Haushaltsführung wieder ins Gleichgewicht zu bringen, führte Vlado K., ein Kroate im Dienste des 1. FC Nürnberg, vor. Mit zwei Eigentoren von höchster Perfektion zum Zwecke manipulierter Wetten — so jedenfalls geht die Mär — soll er seine Gläubiger aus dem Milieu befriedigt und seinen Kopf aus der Schlinge gezogen haben. Was jedoch dann noch die Geschichte mit dem Autoversicherungsbetrug — nächste Mär — sollte, bleibt sein Geheimnis. Kasalo war nach Eigentor verreist. Äußerst fragwürdig!

Sozialdemokratie: Die Sozialdemokratie ist wieder auf dem Vormarsch, auch wenn das Bundestraineramt von der CSU (Beckenbauer) an die CDU (Vogts) weitergegeben wurde und damit immer noch fest in der Hand der Union bleibt. Der Fast-Bundestrainer der SPD, Rehhagel, und die ihm unterstellte balltretende Schwestervereinigung der Sozis, Werder Bremen, verweigerten aber aufs Neue die Regierungsverantwortung. Meister hätten sie werden können, rumgeschlufft sind sie — und konzentrierten sich zu sehr auf die Bundesratsmehrheit (Pokal). Das ist zu wenig!

Sterbehilfe: Der bei Deutschlands Fußballfans als Absteiger favorisierte FC Bayer 05 Uerdingen, in der Grotenburg schon längst vom komatösen Desinteresse gezeichnet, wurde sanft ins Jenseits der Zweitklassigkeit befördert. Bei der sicherlich schweren Aufgabe profilierten sich zu allererst Manager Felix Magath und Zweittrainer Timo Konietzka. Besonders der Hardliner mit dem unnachahmlich helvetischen Ruhrpott-Slang führte mit Rütli-Schwur und frühmorgendlichem Schuheputzen die gezeichneten Bayer-Profis endgültig ins spielerische Nirvana. Aber auch ihn ereilte das Schicksal so vieler Tabubrecher. Lohn und Anerkennung blieben ihm verwehrt. Zwei Spieltage vor Saisonende wurde er auf eine weite Reise geschickt. Und Felix Magath?

Vorruhestandsregelung: Eigentlich wollten Ewald Lienen und Lothar Woelck den Lebensabend ihrer Profikarriere in Duisburg beschaulich ausklingen lassen und mit den betagten Kollegen Macherey, Struckmann, Puszamzies und Tönnies in Ruhe das weiche Brot der 2. Liga kauen. Aber aus dem verdienten Vorruhestand wurde nichts, die Grauen Panther von der Wedau sprangen in die Bundesliga. Trude Unruh: „Vorbilder für eine ganze Generation!“ Christoph Biermann & Thomas Lötz