Das Warten als solches

■ »Theater atitüd« spielt »Schieberblues« für den richtigen Augenblick

Vor dem Verteilerbüro im Arbeitsamt hängt ein Kasten mit leeren Vordrucken, auf die der Bedürftige sein Begehren schreiben soll, dann ein Nummern-Doppel von der Rolle reißen, eine Hälfte auf den Vordruck — oben rechts — kleben, die andere Hälfte in der Hand behalten und auf Aufruf warten. Um dann zu erfahren, vor welchem Zimmer er/sie richtig warten darf. Dies ist die Ost-Variante zu Martina Schleckers Sinnieren über das »Warten auf den entscheidenden Augenblick«, wie die neueste Produktion des »Theaters atitüd« im Untertitel heißt. »Schieberblues« ist das Motto und da schiebt sich ganz schön was zusammen. Auf Rädern, genauer gesagt auf Drehstuhlrollen. Die Bühne ist ähnlich abwechslungsreich wie besagter Arbeitsamtflur: weiß und kahl, nur ein Ausschnitt in der Mitte, den eine Null ausfülll, bei Stückhöhepunkt wird umgeblättert von Null bis Neun.

Die vier Spielerinnen und fünf Spieler vom Charlottenburger Theater »atitüd« sind Nummern, Typen, ohne Karrikatur zu werden. Sie sind Stino, Normalo, schäferhundezüchtender Bürger; eine Bardame und ein Mädchen aus einem Wohnwagen ist auch dabei. Allesamt im Umgang mit Bürodrehstühlen erfahren. Ein solch alltäglicher Gegenstand kommt auf fünf Rädern daher, seine Sitzfläche ist hoch und runter verstellbar. Man kann sich vorsichtig darauf erhöhen und Bonbons verteilen, zaghaft bis heftig die Hüften drehen und dabei den Stuhlschwung geschickt nutzen, mit der Lehne als Schutzschild kämpfen, man gelangt in einem Wahnsinnstempo von einem Bühnenende zum anderen, man kann Rollstuhlfahrer spielen und so tun, als ginge das mit dem Laufen nicht mehr. Eine Metapher, ich weiß: Es wird vorgeführt, wie vieler Vehikel es bedarf, daß wir miteinander reden.

Geredet wird in der aktionsreichen Wartestunde auch. »Ich will ein Kind von dir« ist die verzweifelte Bitte an den erwählten Mann, und da der abwehrt, an alle vorhandenen Männer. Sie werfen die Wohnwagenfrau von sich weg, dem nächsten in die Arme. Kreis auf Kreis. Darauf die anderen Weiber sich den Satz Wort für Wort aus dem Munde ziehen. Weil es so schwer ist, über sich zu sprechen. Haben die neun in ihren schwarz-goldenen oder schwarz- lachsfarbenen Alltagskostümen mal Zoff, fängt einer an zu singen, man tanzt und stürzt aufeinander los. Wie im richtigen Leben. Letztlich hat jeder nur seins, seine Schmerzen, manchmal auch Freuden, Hoffnungen allemal.

Warten auf den entscheidenden Augenblick gerät zum Glück nicht ins Meditieren über die Menschheit und ihre Katastrophen. Dank der Dreh/roll/kipp/hebe-Technik bleibt das Stück schön banal. Möge sich am nächsten (Büro-)Tag das Warten erfüllen. Und sei es auch nur das auf den Feierabend. Laura Lorenz

Schieberblues, noch bis heute im Theater Zerbrochene Fenster, Eingang Schwiebusser Starße 16, 1-61, um 21 Uhr und vom 26.6. bis 29.6. im Innenhof des Ägyptischen Museums, Schloßstraße 70, in 1-12 um 20 Uhr.