BERLINER PLATTENTIPS
: Empfängnishilfe

■ Einstürzende Neubauten: Strategics Against Architecture II (RTD)

Einstürzende Neubauten sind immer noch besser als ihr Ruf, vielleicht nur ein wenig vergeistigter und exzentrischer. Bevor sie ungefragterweise ganz und gar wegästhetisiert werden, ist nun als eine Art Retrospektive ein Doppelalbum erschienen, das ihre Schaffensperiode zwischen 1984 und 1990 dokumentiert. Es handelt sich dabei allem Anschein zum Trotz immer noch um Strategien. Die waren der Gruppe 1983 noch von außen vorgegeben. Damals hallten die Parolen aus dem Häuserkampf in den Liedern wider. Fragmente und unveröffentlichtes Material in »low fidelity« bestätigten den Ruf der genialen Dilettanten als Lautsprecher der Besetzerideologie von der Spree. Die Strategie fiel mit den Häusern. »Strategics Against Architecture II« setzt nun Akzente aus einer anderen Perspektive.

Die Neubauten können sich heute der veränderten Akzeptanz durch das Bildungspublikum bedienen, so wie man sich die Lachschnitten vom Büffet fischt, mit der Würde eines ungebetenen Gastes. Die grundlegende Destruktion von gewohnt musikalischen Formen bleibt weiterhin das Konstrukt, auf dem ihre Musik aufbaut. Dabei liegt kein individuelles Engagement in dem Hämmern, Sägen, Bohren und Kreischen, das live und auf Platte ausdrucksstark ertönt. Es ist vielmehr kollektive Arbeit gegen Strukturen — und sie funktioniert. Kakophonie und Polyrhythmik sind sogar noch unberechenbarer als früher geworden. Mitunter sind sie deshalb in der Lage, auf der Basis eines einfachen Blues- Stückes ein Industriegeräusch-Tohuwabohu zu entfachen, das die zugrundegelegte Form scheinbar spontan überwältigt.

Der Lärm regiert am Ende über die Form, ob in der Cover-Version des Easy-Listening-Klassikers von Lee Hazelwood oder Nancy Sinatra (»Sand«) oder in »Yü- Gung«, dem Ego-Füttertanz mit dem stählernen Beat und dem zwielichtigen Text, in dem Bargeld mit der Kraft des »Ich« seinen eigenen Mythos repetiert. Später singt er dann »Ich bin's« und hängt ein »nicht« hinten an. Nichts ist einfach. Die solchermaßen wechselnden (Selbst)-Erfahrungen machen Strategien II zu einer Art akustischem Tagebuch. Da wurden nicht nur Regale nach obskuren Raritäten durchwühlt, die dem Fan das Gefühl von Authentizität vermitteln könnten. Memoiren sind die ausgewählten Stücke auf keinen Fall. Rätsel vielleicht, denn gerade wiederkehrende Motive, Textfetzen oder Sprachbilder und Umkehrungen von bekanntem Material verformen ständig den Rückblick auf eine Bandgeschichte, die eigentlich noch gar nicht mit dem Abschluß angefangen hat. Der immer wieder in veränderter Form auftauchende Song »Abfackeln!« verdeutlicht diese Bewegung. »Abfackeln!« dient als rasanter Opener der Doppel-LP, dann folgt später eine Reprise mit dem Titel »Fackeln!«, als ein »Weiterbrennen« gedacht. Mit Konzertausschnitten aus Los Angeles gemischt ist »Abfackeln!« die dritte, einer programmatischen Aussage ähnlich — die Bühne beim Auftritt in Amerika wurde wirklich in Brand gesteckt. Aber erst »Jordache (sell out)« bildet die endgültige Version. Der aggressive Aufschrei ist zu einem abgeklärten Werbespruch selbstironisch passend mutiert. Der Kulturexport ist eine Corporate Identity, mit kalkulierter Provokation in Szene gesetzt.

Die Veränderungen, denen das Material über die Jahre unterworfen war, haben die Strukturen zu noch offeneren Formen geführt. Fast alle Text- und Melodiepartikel erweisen sich als eigenständige Träger, das gleiche Stück kann meditativ oder metallen klingen. Die Band beschreibt diesen Auflösungsprozeß mit ihrer Musik über vage Annäherungen, sei es anhand des vertonten Heiner-Müller-Textes (»Bildbeschreibung«) oder in Bargelds Traumzyklus »DNS-Wasserturm«, bei dem alle Klänge abstrakt-assoziativ gestaltet sind. Nichts ergreift mehr emotional Partei oder schafft pathetische Dramaturgie, wie früher noch das Leiden des Sängers mit aufjaulenden Gitarren und Sägen begleitet wurde. Die Musik schließt sich nicht an Form oder Inhalt an und bleibt als fortwährender Geräuschfluß der Stimme unterlegt. Beide brechen manchmal laut aus, um dann wieder diszipliniert an die Kette der Selbstreflektion gelegt zu werden. Im CD-Bonus-Stück »Kein Bestandteil sein« steigert sich dies zum Credo der Band. Der Klang schwillt orchestral an, die Stimme kommt und geht. Außer dem Pulsieren des Basses verändert sich wenig, dennoch könnte es eine Minimal-Oper sein oder Fluxusdisco, in der sich Bargeld als Beuys die Glieder verrenkt.

Diese offene Provokation wappnet sich wohl auch vor den Mühlen der Kulturmaschinen, die gerade dann am schnellsten mahlen, wenn ein schlauer Müller sie betreibt. Harald Fricke