Propheten in geringer Stückzahl

■ »Die dritte Dimension« mit vier Berliner Malern und zwei Bildhauern in der Galerie Berlin

»Plastiken muß ich machen. Ich brauche die dritte Dimension, in der ich mich ohnehin immer befinde, wenn ich vor dem Bild stehe.« Ohne viel zu konstruieren, meinte dies der Maler Max Ernst Mitte der vierziger Jahre, nach seinen neueren Skulpturen befragt. Diese »dritte Dimension«, sprich Malerplastik zu zeigen, reizte die Betreiber der Galerie Berlin schon etliche Zeit vor der Gründung ihrer Küttner & Ebert GmbH zu Beginn des letzten Jahres. Nach und nach erhielt dieses Vorhaben faßbare Konturen; und so zeigen die beiden Kunsthändler derzeit in ihren Räumen am Checkpoint Charlie vier Berliner Maler: Joachim Böttcher, Walter Libuda, Gerd Sonntag und Falko Warmt, denen, laut Ebert, die Ernstsche Äußerung wie auf den Leib geschneidert scheint. Als »plastischen Gegenpol« wählten sie den ebenfalls in Berlin lebenden Bildhauer Eberhard Seidel und den an der Stuttgarter Kunstakademie lehrenden Jürgen Brodwolf; beide produzieren neben Relief, Skulptur und Plastik vor allem auch Malerei und Zeichnung.

Von den vier Erstgenannten ist es Falko Warmt (Jahrgang 1938), der bisher am längsten parallel in beiden Gattungen arbeitet. Wie seinen Bildern ist auch den Skulpturen die von ihm angestrebte Transparenz eigen, finden sich in den hochaufragenden Wächter- und Prophetengestalten aus Eisendraht, ergänzt durch absurde Fundstücke, Farbe und filigranes Beiwerk, die fahrig miteinander vernetzten Liniengeflechte seiner Zeichnungen und großformatigen Farbarbeiten wieder. Bei Warmt dreht sich alles um Verletzen und Verletztsein, um das Schlagen von Wunden, um deren Vernarbung und Verhäutung. So wirken nicht nur seine Bildkompositionen instabil, auch das Lineament des Eisendrahtes seiner plastischen Arbeiten gerät schon durch die leiseste Berührung in Schwingung. Die ständig hektische Umgebung läßt seine Objekte nie zur Ruhe kommen. Ebenso unstatisch erscheinen seine Bilder, auf denen er hauchdünne Papiere in unzähligen Lagen übereinander montiert und diese reliefartige Oberfläche mit einem unentwirrbaren Farbgespinst überzieht.

Was bei Warmt in geringer Stückzahl und langwierig-konzentrierter Kleinarbeit wächst, steht im Gegensatz zur Vehemenz und Unbedenklichkeit im Umgang mit Form und Farbe, mit der die zu Beginn der achtziger Jahre jüngste Generation in die Kunstszene drängte. Zwei inzwischen arrivierte Vertreter dieser lauten, wilden und in der ehemaligen DDR aufmüpfigen Malerei sind der Heisig-Meisterschüler Walter Libuda (Jg. 1950) sowie der sich unterdessen in Kreuzberg auch als Galerist probierende Gerd Sonntag (Jg. 1954). Beide hielten der pastosen Ölmalerei intensivster Farbigkeit bis jetzt die Treue, konzentrieren sich aber zunehmend auf Kompositionen mit weniger Figuren, was Sonntag in letzter Zeit zum Porträt führte. Seine an Jean Dubuffet erinnernden riesenhaften Köpfe zwängen sich in das Bildgeviert und werden durch dieses jeweils um ein Drittel beschnitten, entbehren dadurch stets den oberen Teil des Schädels und glotzen den Betrachter selbstvergessen aus ihren großen, kurz unter der oberen Bildkante hängenden Augen an. In der Skulptur traktiert er sich und andere seit Jahren mit Einkaufs- oder Kinderwagen schiebenden Frauen à la Ready-made. Obwohl es ihn inzwischen zunehmend in den Manierismus treibt, bis hin zur kostbar-sakral anmutenden Goldfarbigkeit, ist den Objekten ein gewisser Witz nicht abzusprechen.

Ebenso großzügig und prozeßhaft in der Form wie die Malerei Gerd Sonntags bietet sich die Walter Libudas dar; hierbei stets pendelnd zwischen Skizzenhaftigkeit und konsequenter Entscheidung zur Dichte, zur Ausdruckskraft von Farbklängen sowie zum Zusammenschluß seiner detaillierten Formballungen. In der Galerie Berlin zeigt er neben Ölbildern, die seine virtuose Beherrschung des Mediums Farbe unter Beweis stellen, auch zahlreiche kleinformatigere Gouachen, in denen er zusätzlich mit Kohle und Kreide arbeitete und hierbei besonders intensiv seiner »Lust am Chaos« zu frönen scheint. Libudas Malerei wurde wiederholt als »großes ernstes Spiel« charakterisiert, wobei die Themen und Bildgegenstände ausschließlich der Welt zwischen Erfahrung und Vision entstammen. Seine plastischen Versuche dagegen, säuberlich aus Wellpappe geschnittene Teile, additiv zu einem Ganzen gefügt, verklebt und bemalt, sind wohl als Beweis dafür zu verstehen, daß Libuda tätsächlich in erster Linie Maler ist.

Der vierte Berliner, Joachim Böttcher (Jg. 1946), verstand es, in dem für ihn vorgesehenen Teil der Galerie eine sehr angenehme, geschlossene, kleine Personalausstellung zu arrangieren. Schon lange faszinierte ihn die Technik der Steinzeugherstellung und ihre ersten künstlerisch geformten Beispiele ostasiatischer Herkunft, so daß seine plastischen Figurationen in dieser Fertigungsweise entstanden; hochaufragende schlanke Stelen, gespaltene Stümpfe und Bruchstücke, deren Farbigkeit sich auf den Grundton des Steinzeugs, also Gelb-Beige, ergänzt durch Weiß und helles Blau beschränkt. Böttcher verzichtet auf jegliche, für Steinzeug eigentlich typische Glasur und läßt die Farbe im porösen Material versacken, wodurch das Kolorit jede Fremdheit gegenüber der spröden Materialität der Figurationen verliert. Aufgrund dieser Leichtigkeit in der Farbe und der starken Formkonzentration steht seine Plastik in organischer Korrespondenz zu den für Böttcher charakteristischen großformatigen Arbeiten auf Papier bzw. Leinwand. Die Titel, die er seinen Blättern gibt, fungieren häufig als sprachliche Metaphern, woraus Assoziationen entstehen, die wiederum einzelne Formen innerhalb des häufig reduzierten und vereinfachten Bildgefüges benennen helfen. Ähnlich der späten »Stadtstilleben« des Berliners Werner Heldt, in denen die Häuser zu Zeichen werden, als farbige Flächen gegeneinander gekantet und deren rhythmische Folge den Raum aufzuheben scheint, verschwindet gleichfalls bei Joachim Böttcher zunehmend das reale Umfeld und wird bis an den Rand der Abstraktion getrieben. Auch seine Arbeiten sind von Flächigkeit, sparsamer Farbwahl und strenger Komposition sowie gelegentlich harter Konturierung der Einzelform bestimmt; und nicht zuletzt geht es ihm um die mit Heldt in Einklang stehenden sensationsfernen, stillen und nüchternen Sujets, um die Wahl des unmittelbaren Lebensraumes zum »selbst durchlebten« Bildgegenstand.

Neben den vier Malern aus Berlin gibt es auch Neues vom ebenfalls in dieser Stadt lebenden Bildhauer Frank Seidel (Jg. 1959) zu sehen. Wer den schnellen, steilen und durchaus berechtigten Aufstieg des Autodidakten nach seiner ersten Personalausstellung 1987 in der Galerie »Weißer Elefant« verfolgte, dadurch seine frühen überlebensgroßen, sich durch spannungsvolle Strenge auszeichnenden, schrundigen Gipsfiguren kennt und sich auch die etwa seit Mitte 1988 entstehenden vorzeitlich-embryonalen Wesen aus Ton, Torf und Leim, liegend auf oder verspannt in merkwürdigen Metall- und Holzvehikeln ins Gedächtnis rufen kann, wird die schlaffe Kraftlosigkeit des hier und heute von Seidel gebotenen »Zuckerwerks« kaum wahrhaben wollen. Persönliche Krise, Suche, das Abstasten neuer Möglichkeiten könnten hier als Bewertungsvokabular herhalten. Gleiches gilt für das sehr große, dreiteilige Tafelbild in Öl.

Wie eingangs erwähnt, ist neben den Künstlern aus Berlin auch der in der Schweiz geborene und in einem kleinen Schwarzwalddorf arbeitende Jürgen Brodwolf (Jg. 1932) Gast in den Ausstellungsräumen. Seine plastischen Arbeiten stehen nicht frei im Raum, sondern befinden sich in sogenannten lebensgroßen Figurenschreinen, d.h. in flachen Holzkästen, die eine Glasscheibe abdeckt und die an der Wand hängen. Die darin in gebeugter Körperhaltung stehenden Figuren lösen sich nicht vollständig von der Rückwand ihres Schreins. Sie werden in seitlicher Ansicht, in verhaltender, leiser Körpersprache gegeben. Die menschlichen Wesen scheinen aus der Leinwand zu reliefartigen Erhebungen herangewachsen, da sie Schicht für Schicht immer und immer wieder mit Pappmaché und Kreideschlämmen oder auch mit in Gipsbrei bzw. in Leim getauchten Tüchern überarbeitet werden. Die so entstehenden verkrusteten Bandagierungen verleihen den Figuren den Charakter von Fund- und Ausgrabungsstücken, lassen sie als Relikte längst vergangenen Lebens erscheinen. In seinen Zeichnungen sieht Brodwolf »das Blatt Papier als abgesteckten Spielraum — also topographische Landschaft«, in der sich Wasserfarbe zu figürlichen Farbrinnsalen verdichtet, zu Wesen, die ekstatisch auseinander hervorwachsen oder sich gegenseitig zu verschlingen drohen.

So verschieden und eigenständig die beschriebenen Handschriften der zur Zeit in der Galerie Berlin präsentierten Künstler auch sein mögen, und so sehr die Auswahl einiger qualitätiv bedenklicher Arbeiten befremdet, lebt die Ausstellung doch gerade durch das Zusammenspiel ihrer extremen Gegensätze. Liane Burkhardt

Die dritte Dimension ist noch bis zum 13. Juli in der Galerie Berlin, Friedrichstraße 58/Ecke Leipziger Straße zu sehen. Öffnungszeiten: di-fr 11-18, sa 10-14 Uhr.