Italiens Rechts- system verfällt

Eine der wichtigsten Bastionen der Demokratie wird von den italienischen Politikern systematisch unterhöhlt  ■ Von Werner Raith

Ein Richter, der in Palermo fröhlich weiter Urteile spricht, obwohl er zu einem halben Jahr Knast verurteilt ist; wenige Schritte weiter ein Kollege, der gerade durch politische Protektion zum Chef einer Privatfirma wurde und trotzdem noch seine Tätigkeit als Gerichtspräsident ausübt. In Bologna ein Staatsanwalt, dem die Verfahren gegen rechtsterroristische Attentäter und die Geheimloge „Propaganda 2“ entzogen wurden, weil er sich angeblich von der Kommunistischen Partei instrumentalisieren ließ, und der, obwohl sich die Anschuldigungen inzwischen als Machenschaften eben jener Loge „Propaganda 2“ erwiesen haben, nicht wieder an seinen alten Platz zurückdurfte. In Neapel ein Ankläger, vom Justizminister disziplinarisch belangt, nur weil er in einem Prozeß um Kungeleien zwischen Rotbrigadisten, Camorra- Bossen und Geheimdiensten Einlassungen christdemokratischer Politiker anzuzweifeln gewagt hatte. In Sizilien die Ernennung eines in Mafia- Prozessen völlig unerfahrenen Juristen zum Leiter der Ermittlungsstelle, vorbei an einem der besten Fahnder des Landes — Begründung: Der Neuberufene liege an „Anzianità“ —das heißt an Dienstalter — um einige Wochen vor dem Mafia-Spezialisten. Beim Verfahren um den betrügerischen Bankrott der Banco Ambrosiano in Mailand — Schaden mehr als eine Milliarde Dollar — neunzehn Untersuchungsrichter verschlissen, nur um herauszubringen, ob der Chef der Elektronikfirma Olivetti, Carlo De Benedetti, und der Vertraute des derzeitigen Ministerpräsidenten Andreotti, Ciarrapico, wegen einer möglichen Verwicklung vor Gericht zu bringen sind oder nicht.

Momentaufnahmen eines Justizsystems „in voller Agonie“, wie der Vorsitzende des Richterverbandes, Giuseppe Bertoni, beklagt. Und dabei sind diese spektakulären Fälle nicht einmal das Schlimmste an diesem Desaster. An italienischen Gerichten fehlen derzeit mehr als zwanzig Prozent der vorgesehenen Beamten und Angestellten, und dabei gibt es ohnehin schon viel weniger Stellen als in vergleichbaren Ländern. Im Süden des Landes sind mehr als ein Drittel, in einzelnen Staatsanwaltschaften, etwa in Kalabrien und Innersizilien, mehr als drei Viertel der Stellen vakant: Daß das nicht alleine an der Angst vor den im Süden wirkenden Gangsterorganisationen liegt, zeigt die Tatsache, daß auch im Norden gut ein Siebtel der Plätze frei ist, trotz hoher Arbeitslosigkeit auch unter Juristen.

Doch die Bezahlung der Staatsdiener ist miserabel, viele Stellen sind auch einfach eingefroren, die meisten so miserabel ausgestattet, daß selbst einfachste Arbeiten zur Qual werden, oft gibt es nicht einmal ausreichend Telefone, von Telefax ganz abgesehen, die Archive sind ein Chaos, das Zuarbeiterpersonal ist nicht oder unzureichend ausgebildet. In Neapel schieben die Gerichte mehr als hunderttausend anhängige Verfahren zum Teil seit Jahren vor sich her; doch auch im „zivilisierteren“ Norden ist die Dauer eines normalen Gerichtsverfahrens bis zum definitiven Abschluß nicht unter sechs, bei komplizierteren Prozessen teilweise weit über zehn Jahren anzusetzen. Von den derzeit gut 30.000 Häftlingen sind fast die Hälfte Untersuchungsgefangene — doch wenn einige von ihnen wegen Überschreitung der Höchstdauer von U-Haft herausgelassen werden, sind es in der Regel hochrangige Straftäter aus dem Mafia-Milieu mit entsprechend cleveren Anwälten.

Teile des staatlichen Territoriums, das mußte bereits vor zwei Jahren der damalige Innenminister Antonio Gava (DC) einräumen, sind längst nicht mehr unter Kontrolle der legitimierten Behörden, sondern werden von den Syndikaten der Mafia oder Camorra regiert. Mit der Tendenz, sich vom Süden nach Norden auszubreiten — in der Lombardei und in Piemont ist die Zahl mafioser Morde bereits auf dem Niveau Siziliens der frühen achtziger Jahre angekommen. Und es gibt kaum Sühne für solche Aktionen: Der Staat zeigt sich unfähig zur Strafverfolgung.

Internationale Hilfsorganisationen wie amnesty international beklagen denn nicht nur die lange Verfahrensdauer, sondern auch die unsichere Rechtslage bei den Verfahren und die mangelnde Respektierung rechtsstaatlicher Normen; der Europäische wie der Internationale Gerichtshof lassen neuerdings gerade mit Blick auf Italien „Sprunganrufungen“ zu: Dauern die Verfahren über Gebühr lange (Normgrenze: vier Jahre), so erlauben die Gerichte ihre Anrufung auch schon, bevor — wie sonst vorgeschrieben — der Rechtsweg im eigenen Lande völlig erschöpft ist.

Italiens Chaos ist nicht harmlos

Ein Desaster „sowohl unter dem Aspekt der Bürgerrechte wie dem des Respekts vor dem Volk“, erkannte der linksliberale Juristenverband „Magistratura democratica“ (MD), und da sekundiert auch die sonst mit der MD auf Kriegkurs liegende „Magistratura independente“ (MI): „Von Rechtspflege kann keine Rede mehr sein, da wird gerade noch geflickschustert, mehr nicht.“ Daß die Juristenorganisationen selbst nicht ganz unschuldig am Niedergang des Systems sind, geben viele ihrer Mitglieder inzwischen zu — kleinlicher Streit um Verbandsinteressen und Willfährigkeit Politikern gegenüber hat sicher zur Schwächung des Systems beigetragen.

Doch die wirkliche Gefahr, und dies scheint „vor allem das Ausland noch nicht so recht zu verstehen“ (so die Bürgerrechtsvereinigung „Società civile“ in Mailand), droht „von der beliebten Verharmlosung, dies alles sei eben Bestandteil jenes liebenswerten Chaos, in dem Italien seit eh und je steckt. Vor allem das Ausland — „das hier immer mehr zu einer wichtigen Wächterfunktion aufgerufen ist“ — geht diesen beruhigenden Parolen „allzu schnell auf den Leim“. Statt dessen, das haben inzwischen viele Kritiker von mitte- rechts bis ganz links erkannt, „steckt hinter dem Totalverfall des Rechtssystems nicht die Unfähigkeit zur Trendumkehr oder ein mangelndes Wissen um die richtigen Hilfsmittel“, so der Verfassungsrechtler und Präsident des „Partito democratico della sinistra“, Stefano Rodot, „sondern eine besorgniserregende Methode, eine der wichtigsten demokratische Institutionen zu Fall zu bringen.“

Das ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Rechtsprechung war bis vor kurzem der letzte verbliebene Pfeiler der 1946 geschaffenen demokratischen Republik. Die nach der Beseitigung des Faschismus und der Abschaffung der Monarchie mit tragenden starken Verbände von Widerstandskämpfern („Resistenza“) erodierten durch Alter und Tod ihrer Mitglieder, die ehemals demokratie- garantierende Arbeiterbewegung verabschiedete sich aufgrund immer engerer Arrangements mit der Industrie. Daß nun auch die Justiz ausfällt, ist jedoch weder natürlichem Verschleiß noch größerer Techtelmechtel ihrer Vertreter mit dunklen oder weniger dunklen Mächten zuzuschreiben, sondern tatsächlich einer präzisen und teilweise ganz offen verfochtenen Taktik: Teile des „Palazzo“, des Gemenges an der Macht teilhabender Gruppen und Parteien, versuchen seit langem die Rechtsprechung auszuhebeln, weil die ihnen allzuoft in ihre Mauscheleien hineingefahren war (in der Mittel- und Unterschicht galten Italiens Gerichte bis in die siebziger Jahre hinein als eine Art „Schutzengel für den kleinen Mann“.

Doch so richtig erfolgreich sind die Verfechter des Abbaus justitieller Autonomie erst geworden, seit in den letzten eineinhalb Jahren einer zu ihnen gestoßen ist, der von Amts wegen eigentlich Garant und oberster Hüter der Rechtsprechung sein sollte — der Staatspräsident. Francesco Cossiga, 64, Staatsrechtler, hat offenbar erkannt, daß der Weg zu der von ihm seit einiger Zeit propagierten „Zweiten Republik“ mit stark autoritären Zügen nur über eine völlige Zertrümmerung der unabhängigen Justiz zu bewerkstelligen ist. Anstatt den staatlichen Organen dieser freiheitlichsten und demokratischsten Verfassung der italienischen Geschichte Ausstattung und Kraft zu verschaffen, setzt er auf eine autoritäre Wende nach dem Muster De Gaulles in Frankreich.

Und er möchte offenbar unbedingt als jener Präsident in die Geschichte eingehen, der den Übergang in eine neue Staatsform durchgesetzt hat. Besorgte Beobachter erkennen bei ihm seit einiger Zeit eine Unduldsamkeit, die an Cäsarenwahn heranreicht oder, alternativ dazu, totalen Realitätsverlust. Doch er ist gut zu gebrauchen für allerlei Kräfte, die diesen Staat seit längerem umkrempeln wollen. Denn so wenige Kompetenzen ihm die Verfassung ansonsten zuschreibt, so hat er doch eine Position inne, die derzeit besonders wichtig ist: Er ist der Hüter der Rechtsprechung. Eine Funktion, die frühere Präsidenten mit größter Vorsicht wahrgenommen haben, die aber Cossiga nun voll ausschöpft.

In Italien hat das Staatsoberhaupt qua Amt den Vorsitz im Obersten Richterrat, einem von allen Richtern und Staatsanwälten des Landes (zu zwei Dritteln) und den Parlamentsparteien (zu einem Drittel) gewähltes Selbstverwaltungsorgan. Es soll der Rechtsprechung absolute Unabhängigkeit von der Politik garantieren: Versetzungen und disziplinarische Angelegenheiten sind dem „Corte supremo della magistratura“ (CSM) ebenso vorbehalten wie Standesfragen und, vor allem, die Verteidigung der Autonomie der Richter wie auch der gerichtlichen Ermittlungsorgane wie Untersuchungsrichter und Staatsanwälte.

Kollisionskurs gegen Rechtsstaat

Cossiga fährt gegen diese Normen einen präzisen Kollisionskurs: Mal verbietet er dem CSM aus heiterem Himmel die Diskussion von Themen wie die Frage von Vereinbarkeit des Richteramtes mit der Mitgliedschaft in Geheimlogen; mal trompetet er Werturteile über Gerichtssentenzen hinaus und untersagt danach sofort dem CSM — der ja zum Schutz des Richterstandes eingerichtet wurde —, dazu seine Meinung auszudrücken. Dann beleidigt er alle pazifistischen Juristen mit dem Zuruf „Feiglinge“, und wenig später sind ihm die wenigen Jungjuristen, die sich noch auf eine der Himmelfahrtssatelliten in Mafia-Gebiete wagen, nichts anderes als „ragazzini“, kleine Jungen.

Dabei befindet sich der Präsident zwar überhaupt nicht in Einklang mit seiner eigenen christdemokratischen Partei, wohl aber völlig im Gleichschritt mit dem Juniorpartner der Regierung, den Sozialisten. Die legen sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt kontinuierlich mit den Gerichten und auch sonst allen Strafverfolgern an.

Gründe dafür haben die Leute vom „Partito sozialista italiano“ (PSI, neuerdings „Unità socialista“, US) wohl, wenn auch deren demokratischer Wert eher zweifelhaft ist: Seit die PSI mit der Übernahme durch Bettino Craxi 1976 aus ihrer Mitläuferrolle heraustrat und innerhalb der Koalition (obwohl nicht halb so stark wie die DC) die Bedingungen stellt, den Staat immer ungenierter als ihr Eigentum ansieht und auf diese Weise auch mächtig in Kungeleien mit außerstaatlichen Kräften aus Industrie, Finanz und Unterwelt geriet, stehen die sozialistischen Politiker und ihre Zuarbeiter immer häufiger im Mittelpunkt von Gerichtsverfahren. Mal geht es um illegal erteilte Konzessionen für große Bauaufträge oder Spielkasinos, mal um unklare Geschäfte der Parteikämmerer; mal geraten auch Medienzaren mit engen Beziehungen zur PSI wie der unumschränkte TV- Herrscher Silvio Berlusconi mit Richtern aneinander und müssen dann von PSI-Craxi höchstpersönlich wieder herausgehauen werden. Statistisch ist die Zahl vor Gericht geratener Sozialisten zumindest in Relation zur Mitgliederzahl und den eingenommenen Ämtern bereits wesentlich höher als bei den früheren Spitzenreitern, den Christdemokraten.

Was jedoch die Katholikenpartei als eine Art von Betriebsunfällen hinnahm und mit dem Slogan „Man darf sich halt nicht erwischen lassen“ quittierte, sahen die Sozialisten seit eh und je als Fehler im System an, zumindest solange es zu ihren Lasten ging. So verdächtigten sie bei nahezu allen staatsanwaltlichen Aktionen sofort dunkle Mächte, die ihnen böse wollen, mal Kommunisten, mal den „großen Alten“, wie PSI-Chef Craxi bei jeder Gelegenheit unterstellt. Mittlerweile haben die Sozialisten zwar die wichtigsten obersten Instanzen so weit mit Leuten ihrer Provenienz infiltriert, daß zahlreiche nachteilige Urteile der unteren Instanzen aufgehoben werden. Doch darauf möchten sich die Sozialisten eben nicht ausschließlich verlassen, speziell wenn sie nun immer deutlicher ihrem Ziel einer Präsidialrepublik mit — natürlich — Craxi als Chef der Exekutive näherrücken. Unabhängige Richter könnten das Vorhaben noch auf vielfältige Weise stoppen, sei es durch verfassungsrechtliche Auflagen bei der Umwandlung der Republik, sei es durch Madigmachen der Protagonisten in Form böser juristischer Anklagen. Und so werkeln Craxi und der ihm hörige Cossiga derzeit denn so zäh wie noch nie am Totalabbau des Systems richterlicher und staatsanwaltlicher Unabhängigkeit.

Vorarbeit haben sie schon früher geleistet. 1987 hebelten sie den letzten liberal denkenden Justizminister aus, Mino Martinazzoli vom linken DC-Flügel; seither besetzt Craxi das Ressort mit einem aus seiner Partei. Zunächst wurde der im Lande sehr angesehene ehemalige Partisan Giuliano Vassalli vorgeschickt, mittlerweile ist der Partei-Youngster Claudio Martelli dran, allgemein eingeschätzt als skrupelloser Exekutor der Wünsche Craxis.

Er überdeckt mit einigen spektakulären Aktionen geschickt all die anderen Maßnahmen, mit denen er die Politik der letzten Jahre fortsetzt. So holte er sich zwar den bekanntesten Mafia-Ermittler Giovanni Falcone in sein Ministerium und kündigte die Bildung von Sonderkommissionen an allen Brenpunkten der organisierten Kriminalität an. Doch gleichzeitig setzt er unbeirrt die Demontage der unabhängigen Rechtssprechung fort — genau in der Linie, wo seine Partei vor fünf Jahren erstmals erfolgreich war.

Die Keule der Gehaltskürzung

Damals hatten die Sozialisten ein von der kleinen radikalen Partei eingeleitetes Referendum zur Einführung zivilrechtlicher Haftung von Richtern und Staatsanwälten bei Fehlurteilen geschickt umgemünzt, um die gesamte Rechtssprechung politischer Pression aussetzen zu können. Hatten die Promoter der Volksabstimmung auf ein unabhängiges Gremium für Verfahren gegen Rechtsbeugung gesetzt, so ist es nun der Justizminister, der die Keule der Gehaltskürzung und des Schadensersatzes aus der Tasche ziehen darf — oder dies auch unterlassen kann, ganz nach Belieben.

Zwar muß dann wiederum ein Gericht über die unterstellte Unregelmäßigkeit urteilen. Doch wie sich gezeigt hat, bringt auch die unrechtsmäßige Einleitung eines solchen Verfahrens schon so viel Arbeit für den Angeschuldigten, daß seine Arbeit monatelang paralysiert wird. Ein hervorragendes Mittel, ihm anderweitige Verfahren „begründet“ zu entziehen.

Ein weiterer Schritt in PSI-Richtung war dann das 1990 in Kraft getretene neue Strafprozeßrecht von Justizminister Vassalli. Das sollte angeblich vor allem beitragen zur Reduzierung der langen Prozeßzeiten und zahlreiche Revisionen und Berufungen überflüssig machen. Das Zauberwort hieß „Patteggiamento“, eine aus der amerikanischen Rechtssprechung übernommene Norm: Danach können sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf bestimmte Anklagepunkte einigen und lassen dabei konsequenterweise andere Vorhalte fallen. Daß diese Art legaler Mauschelei in den USA in einem ganz anderen Kontext steht — der District attorney ist Wahlbeamter und bekommt bei allzu offensichtlicher Kumpanei mit Angeklagten bei seiner nächsten Kandidatur die Quittung — verschwiegen die Gesetzesschmiede vornehm. Wohlweislich, denn sie wollen den Ankläger ganz anders funktionieren lassen als in den USA: Er soll direkt an die politische Leine, indem er der Weisungsbefugnis unterworfen wird.

Wer angeklagt wird und wer nicht, soll ein von der Regierungsmehrheit eingesetzter „Generalprokurator“ entscheiden. „Wie im Faschismus“, entsetzte sich der Vorsitzende des Verfassungsgerichts Ettore Gallo. Da hat er nicht unrecht: geht die „Reform“ durch, wäre das System perfekt: Kein regierender Politiker bräuchte mehr für sich und seine Gefolgsleute fürchten.

Daß der neue Prozeßkodex alles andere als eine Fortschreibung des demokratischen Rechtsstaates ist, zeigt sich freilich auch schon ohne Domestizierung der Staatsanwälte. Und das liegt nicht nur daran, daß der Justizminister — angeblich — vergessen hat, rechtzeitig an den Universitäten Kurse und in den Ämtern Dienststellen für die neue Figur des „Vorverfahrensrichters“ einzurichten (der „giudice preliminare“ ersetzt den Untersuchungsrichter und hat weit weniger Kompetenzen als dieser). Auch die „patteggiamento“- Mauscheleien führen eher zu grotesken Ergebnissen denn zu mehr Rechtssicherheit.

Tatsächlich brachte die neue Vorschrift kaum Vorteile für Unschuldige — sie müssen ja weiterhin das gesamte Verfahren durchstehen, sofern sie nicht einfach irgendetwas zugeben, um die Sache vom Hals zu kriegen. Profitiert haben vielmehr alle die, denen tatkräftige Verteidiger zur Seite stehen, in der Regel Chefs großer Firmen oder Mafia- Bosse. Geradezu haarsträubende Schnellurteile sind bereits an der Tagesordnung; Anklagen wegen mangelnder Sicherheitseinrichtungen in Betrieben verändern sich in bloße Ordnungswidrigkeiten wegen Nichteinhaltung vertraglicher Verpflichtungen (so in einem Fall gegen Fiat), Vergewaltigungen zu rauschbedingten Versehen (in Mailand gegen eine Bande Jugendlicher), Einfuhr großer Mengen Rauschgift zu Vergehen gegen das Zollgesetz (in Palermo). Ein flüchtiger Mafia-Boß aus Kalabrien, der drei Carabinieri mit einer Maschinenpistole beschossen hatte, sah sich zu seiner eigenen Überraschung nicht wegen Mordversuchs verurteilt, sondern nur wegen Hehlerei — er hatte das gestohlene Fluchtauto weiterverkauft; der Anschlag gegen die Polizisten war vom Gericht auf „Bedrohung von Beamten“ reduziert und wegen Verjährung nicht weiter verfolgt worden.

Noch verteidigen die meisten Gerichtsjuristen demokratische und autonome Positionen. Die als „ragazzini“ abgekanzelten jungen Staatsanwälte protestierten heftig gegen die Beleidigung durch den Präsidenten und rückten dem Justizminister bereits mehrere Male handfest bei Versammlungen zu Leibe; der Vizepräsident des Obersten Richterrates, Giovani Galloni, bezeichnete die Forderung nach Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte als verfassungswidrig (und handelte sich den öffentlichen Vertrauensentzug des Staatspräsidenten dafür ein).

Doch Breschen sind schon erkennbar: Die wohl bedenklichste ist das Überwechseln des palermitanischen Antimafia-Oberermittlers ins Justizministerium zum neuen Ressortchef Claudio Martelli. Nicht daß an den Worten Giovanni Falcones zu zweifeln wäre, daß man „die Mafia auch anderswo schwer treffen kann, nicht nur als Untersuchungsrichter“. Doch nun dient Falcone als Leiter der Strafrechtsabteilung im „Ministero di grazia e giustizia“ genau jenem Mann als Alibi und Zierde, der vor zwei Jahren alles darangesetzt hat, die bis dahin erfolgreiche Arbeit des „Antimafia-Pools“ unter Falcone zu sabotieren — schließlich verdankt Martelli einen Teil des PSI-Stimmenzuwachses bei den letzten Wahlen (er war in Sizilien Spitzenkandidat) mächtiger Propaganda unter den Mafia-Clans.

Der Verdacht, daß da einer beizeiten die Position gewechselt hat, weil er die Sache einer unabhängigen Justiz für verloren hält und sich nun dort ansiedeln möchte, wo künftig die juristischen Direktiven getroffen werden, ist im Falle Falcones nicht von der Hand zu weisen. Es wäre freilich auch das Zeichen, daß er sich der großen Illusion hingibt, aus dem Inneren der Administration heraus Politik machen zu können — gegen die Politiker und ihre Hinterleute. Das aber hat bisher noch nie funktioniert.

Fortsetzung

gezeigt hat, bringt auch die unrechtsmäßige Einleitung eines solchen Verfahrens schon so viel Arbeit für den Angeschuldigten, daß seine Arbeit monatelang paralysiert wird. Ein hervorragendes Mittel, ihm anderweitige Verfahren „begründet“ zu entziehen.

Ein weiterer Schritt in PSI-Richtung war dann das 1990 in Kraft getretene neue Strafprozeßrecht von Justizminister Vassalli. Das sollte angeblich vor allem beitragen zur Reduzierung der langen Prozeßzeiten und zahlreiche Revisionen und Berufungen überflüssig machen. Das Zauberwort hieß „Patteggiamento“, eine aus der amerikanischen Rechtssprechung übernommene Norm: Danach können sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf bestimmte Anklagepunkte einigen und lassen dabei konsequenterweise andere Vorhalte fallen. Daß diese Art legaler Mauschelei in den USA in einem ganz anderen Kontext steht — der District attorney ist Wahlbeamter und bekommt bei allzu offensichtlicher Kumpanei mit Angeklagten bei seiner nächsten Kandidatur die Quittung — verschwiegen die Gesetzesschmiede vornehm. Wohlweislich, denn sie wollen den Ankläger ganz anders funktionieren lassen als in den USA: Er soll direkt an die politische Leine, indem er der Weisungsbefugnis unterworfen wird.

Wer angeklagt wird und wer nicht, soll ein von der Regierungsmehrheit eingesetzter „Generalprokurator“ entscheiden. „Wie im Faschismus“, entsetzte sich der Vorsitzende des Verfassungsgerichts Ettore Gallo. Da hat er nicht unrecht: geht die „Reform“ durch, wäre das System perfekt: Kein regierender Politiker bräuchte mehr für sich und seine Gefolgsleute fürchten.

Daß der neue Prozeßkodex alles andere als eine Fortschreibung des demokratischen Rechtsstaates ist, zeigt sich freilich auch schon ohne Domestizierung der Staatsanwälte. Und das liegt nicht nur daran, daß der Justizminister — angeblich — vergessen hat, rechtzeitig an den Universitäten Kurse und in den Ämtern Dienststellen für die neue Figur des „Vorverfahrensrichters“ einzurichten (der „giudice preliminare“ ersetzt den Untersuchungsrichter und hat weit weniger Kompetenzen als dieser). Auch die „patteggiamento“- Mauscheleien führen eher zu grotesken Ergebnissen denn zu mehr Rechtssicherheit.

Tatsächlich brachte die neue Vorschrift kaum Vorteile für Unschuldige — sie müssen ja weiterhin das gesamte Verfahren durchstehen, sofern sie nicht einfach irgendetwas zugeben, um die Sache vom Hals zu kriegen. Profitiert haben vielmehr alle die, denen tatkräftige Verteidiger zur Seite stehen, in der Regel Chefs großer Firmen oder Mafia- Bosse. Geradezu haarsträubende Schnellurteile sind bereits an der Tagesordnung; Anklagen wegen mangelnder Sicherheitseinrichtungen in Betrieben verändern sich in bloße Ordnungswidrigkeiten wegen Nichteinhaltung vertraglicher Verpflichtungen (so in einem Fall gegen Fiat), Vergewaltigungen zu rauschbedingten Versehen (in Mailand gegen eine Bande Jugendlicher), Einfuhr großer Mengen Rauschgift zu Vergehen gegen das Zollgesetz (in Palermo). Ein flüchtiger Mafia-Boß aus Kalabrien, der drei Carabinieri mit einer Maschinenpistole beschossen hatte, sah sich zu seiner eigenen Überraschung nicht wegen Mordversuchs verurteilt, sondern nur wegen Hehlerei — er hatte das gestohlene Fluchtauto weiterverkauft; der Anschlag gegen die Polizisten war vom Gericht auf „Bedrohung von Beamten“ reduziert und wegen Verjährung nicht weiter verfolgt worden.

Noch verteidigen die meisten Gerichtsjuristen demokratische und autonome Positionen. Die als „ragazzini“ abgekanzelten jungen Staatsanwälte protestierten heftig gegen die Beleidigung durch den Präsidenten und rückten dem Justizminister bereits mehrere Male handfest bei Versammlungen zu Leibe; der Vizepräsident des Obersten Richterrates, Giovani Galloni, bezeichnete die Forderung nach Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte als verfassungswidrig (und handelte sich den öffentlichen Vertrauensentzug des Staatspräsidenten dafür ein).

Doch Breschen sind schon erkennbar: Die wohl bedenklichste ist das Überwechseln des palermitanischen Antimafia-Oberermittlers ins Justizministerium zum neuen Ressortchef Claudio Martelli. Nicht daß an den Worten Giovanni Falcones zu zweifeln wäre, daß man „die Mafia auch anderswo schwer treffen kann, nicht nur als Untersuchungsrichter“. Doch nun dient Falcone als Leiter der Strafrechtsabteilung im „Ministero di grazia e giustizia“ genau jenem Mann als Alibi und Zierde, der vor zwei Jahren alles darangesetzt hat, die bis dahin erfolgreiche Arbeit des „Antimafia-Pools“ unter Falcone zu sabotieren — schließlich verdankt Martelli einen Teil des PSI-Stimmenzuwachses bei den letzten Wahlen (er war in Sizilien Spitzenkandidat) mächtiger Propaganda unter den Mafia-Clans.

Der Verdacht, daß da einer beizeiten die Position gewechselt hat, weil er die Sache einer unabhängigen Justiz für verloren hält und sich nun dort ansiedeln möchte, wo künftig die juristischen Direktiven getroffen werden, ist im Falle Falcones nicht von der Hand zu weisen. Es wäre freilich auch das Zeichen, daß er sich der großen Illusion hingibt, aus dem Inneren der Administration heraus Politik machen zu können — gegen die Politiker und ihre Hinterleute. Das aber hat bisher noch nie funktioniert.