Die letzten Tage des Bundesdorfes

Erster Teil des Hauptstadt-Reports: Die Kampagnen-Macher in Bonn/ Der größte Makler fürchtet Berlin nicht/ Was Herbert, der Berber, und Ramona, die Telefonsex-Anbieterin, zum Krieg der Städte sagen  ■ Von Claus Christian Malzahn

Acht Stunden am Tag sind die Schranken zu. Dann sausen die Intercitys an den wartenden Südstädtern vorbei, 14 Züge in sechzig Minuten. Es schaut der Bonner auf seine Uhr, ein wenig nervös, aber nicht gehetzt. Wenn die Züge vorbeigezischt sind und die Schranken wieder in den Himmel gestemmt werden, teilt der Radler dem Fußgänger den neuen Rekord mit, während der Autofahrer mit ernster Miene beipflichtet: 13 Minuten waren es diesmal.

Das ist das eine große Thema in der 290.000 Einwohner fassenden Stadt am Rhein: die heruntergelassene Bahnschranke und ihre Auswirkung auf den Bonner Stadtverkehr. Der Titel des anderen Themas läßt sich knapper formulieren: Berlin.

Berlin ist schlimmer als jede Bahnschranke — Berlin ist die Bahnschranke, die nie mehr hochgeht. Berlin: Brächte man in Bonn ein eigenes Lexikon heraus, so fände man unter diesem Wort folgende Synonyme: Diebstahl, Erpressung, Großmannssucht, Habgier. Der Berliner: besonders hinterhältiger, großkotziger Nimmersatt (siehe auch: Triebtäter, Beutelschneider, Mafioso). Berlin: Das ist das Bombardement der Außerirdischen auf das Raumschiff Bonn, von langer Hand geplant, gezielt mitten auf die Kommandozentrale. Die letzte Entscheidungsschlacht findet am 20 Juni statt. Berlin kann nur gewinnen, wenn es an Bord Verräter gibt.

Alle Bonner haben Angst. Die Taxifahrer haben Angst vor einem fahrgastlosen Regierungsviertel. Die Kneipiers haben Angst, daß die Bonner Bagage bald in Schöneberg oder Charlottenburg das Bierchen heben geht. Die Hausbesitzer haben Angst vor einem 30prozentigen Wertverlust ihrer Besitztümer. Die Bundesbeamten haben Angst: erstens, daß sie mit Kind und Kegel an die Spree ziehen müssen. Zweitens: daß sie vielleicht in Bonn gelassen werden, während alle anderen nach Berlin gehen — weil sie doch nicht so wichtig waren, wie sie immer getan haben. Die Journalisten haben Angst, daß die in 40 Jahren mühsam aufgebauten Kungelrunden in Berlin auseinanderkullern könnten.

Am vergangenen Samstag faßten sich die Rheinländer deshalb alle an den Händen, bildeten eine kilometerlange Menschenkette und schickten Stoßgebete gen Himmel: Jungfrau Maria, Heilige Mutter Gottes, hilf gegen die Preußen, steh uns bei. Ein Glied aber fehlte in der Kette: Friedel Drautzburg. Der Kneipier, Philosoph und Lobbyist ist zwar für Bonn, doch die Menschenkette war ihm nicht sachlich genug. Der linke Sozi, in den Sechzigern Student am Berliner Otto-Suhr-Institut für Politik, fürchtet sich vor einer Mega-Stadt, die den Rest der Republik zur Provinz schrumpfen läßt. „Bonn ist eine Schnarchstadt. Gott sei Dank!“ ruft er aus. Wer schlafe, mache anderen keine Angst. Er, der in Bonn ein paar Restaurants und Kneipen betreibt, die vor allem von der sozialliberalen Klientel besucht werden, fürchtet die Magie des Ortes. Das Statement eines Sudetendeutschen, der die Ostgebiete wiederhaben wolle, entwickele im Reichstag eine andere Schubkraft als im Bonner Wasserwerk. Eine Unter den Linden aufmarschierende Bundeswehr wecke im Ausland andere Assoziationen als ein paar Blechsoldaten vor der Villa Hammerschmidt. Daß über diese Dinge von den Berlin-Befürwortern so hinweggegangen wird, macht ihn ganz krank. „Da erfüllen sich ein paar Politgreise einen Kindheitstraum!“ wettert er und meint: „Wir haben kein neues Deutschland. Wir haben fünf Länder zum alten dazubekommen!“. Drautzburg, seit zwanzig Jahren in Bonn, wurde tief im Westen geboren, im Eiffelland. Man kann dem prominenten Bonn-Befürworter abnehmen, daß er sich nicht um die paar Hektoliter Bier schert, die er nicht mehr verkaufen könnte, zöge die Mischpoke an die Spree. Drautzbergs Angst ist die eines überzeugten Föderalisten, ist die eines Westdeutschen. Diese Angst wird vor allem von der BRD-Generation geteilt, die 1968 — weil zu jung — nicht selber mitmachte, sondern davon profitierte. Es ist die Angst, der Westen könne „geostet“ werden. Bisher hat alles soviel Spaß gemacht — doch durch die Vereinigung könnte der eher lächerliche Adenauer-Satz: „Die Lage war noch nie so ernst“ die Realität bald korrekt beschreiben. Berlin oder Bonn — das sei eine Glaubensfrage, räumt Drautzburg ein.

Auf dem Bonner Markt ist man zu Diskussionen weniger bereit. „Vierzig Jahre habt ihr uns auf'n Taschen gelegen, jetzt macht ihr die ganze Region hier kaputt!“ empört sich ein Gemüsehändler, der „schönen Spargel für neun Mack“ anpreist. Wer sich in Bonn als Berlin-Freund oder Berliner zu erkennen gibt, lebt nicht ganz ungefährlich. Der Chefredakteur des konservativen 'Bonner Generalanzeigers‘ wurde nach einem berlinfreundlichen Kommentar kurzerhand gefeuert. In Bonn arbeitende Berliner ärgern sich über zerkratzte Autos mit B-Kennzeichen. Wer mit Pro-Berlin-Aufkleber durch die Innenstadt fährt, riskiert beim Aussteigen einen Spießrutenlauf. Prominente Berlin-Befürworter wie Brandt oder Weizsäcker haben in einigen Bonner Kneipen Lokalverbot. Mitarbeiter der Landesvertretung Berlins in Bonn klagen darüber, daß bestellte Taxen nicht eintreffen, dafür erreichen bisweilen Drohanrufe und Schmähbriefe die Statthalter. Nein, so richtig vorstellen kann es sich niemand in Bonn, daß das nun alles gewesen sein soll. Bei vielen wird deshalb der Wunsch zum Vater des Gedankens. „Ich glaub' nicht, daß die für Berlin stimmen werden!“ meint Dieter Limbach, wichtigster Büroraummakler der Stadt. Obwohl die Gefahr besteht, daß viele Behörden die Stadt verlassen, steigen die Gewerbemieten am Rhein zur Zeit erheblich. Lag der Quadratmeterpreis 1989 noch bei 25 Mark, müssen nun schon 45 Mark dafür berappt werden. Das Problem: Die Investoren halten sich seit längerem zurück, neue Büroflächen werden kaum gebaut. Die Nachfrage nach Büroflächen steigt indes — allein durch den Zuwachs aus den neuen Bundesländern und dem Dienstleistungsanhang rechnet man in Bonn mit etwa 10.000 Neubürgern. Auch die Wohnungsmieten haben innerhalb der vergangenen zwölf Monate kräftig angezogen, weil kaum Neubauten in Auftrag gegeben wurden. Daß Bonn im Falle einer Pro-Berlin-Entscheidung zur Geisterstadt wird, glaubt Limbach allerdings nicht. Wenn die Preise wieder fielen, wäre Bonn eine interessante Alternative zum Dienstleistungsstandort Köln. Wenn die Mieten in Bonn günstiger wären, würden viele Konzerne ihre Domizile herüberlegen. Es gehe gerade das Gerücht, daß ein japanischer Automobilhersteller seine Vertretung von Düsseldorf nach Bonn umquartieren würde, wenn Berlin den Zuschlag erhielte.

Schlechter dran sind die Hausbesitzer: Im vergangenen Jahr wurden fast dreißig Prozent weniger Häuser verkauft als 1989. Seine Firma würde von einem Umzug der Bonner Ministerien eigentlich nur profitieren, meint Limbach — dann könne er ja um so mehr freiwerdende Gebäude vermitteln. Trotz der Konfusion auf dem Immobilienmarkt wirkt Bonn vor allem im Regierungsviertel wie eine riesige Baustelle. Ob Umzug oder nicht — die rheinischen Baulöwen haben ihr Geschäft gemacht. Vierzig Jahre lang profitierten sie davon, eine Kleinstadt in eine Regierungswerkstatt zu verwandeln, auch in den nächsten Jahren wird der Pleitegeier kaum über Kränen, Baggern und Lastkraftwagen kreisen. 720 Millionen Mark hat alleine die Bundesregierung noch im Februar 1990 für die Fertigstellung bereits begonnener Bauvorhaben bewilligt — wer sich in dem Metier auskennt, weiß, daß leicht das Doppelte daraus werden kann. Dazu kommen Aufträge anderer Verfassungsorgane: Für 640 Millionen werden an der Kurt- Schuhmacher-Straße neue Dienstgebäude errichtet, eine Besuchertiefgarage in Gronau kostet 25 Millionen, und der Plenarbereich des im Bau befindlichen Bundestages verschlingt mindestens 256 Millionen Mark.

Obwohl völlig klar ist, daß Bonn im Falle einer Pro-Berlin-Entscheidung mit dem wohl einträglichsten Sozialplan der BRD-Geschichte abgefunden werden wird, malen die Rhein-Lobbyisten den Teufel an die Wand. Unter dem Eindruck dieser Angstkampagne wandelten sich CDU-Rechtsaußen zu überzeugten Föderalisten, entdeckten coole Journalisten private Betroffenheit, begannen die westdeutschesten der Westdeutschen — die Rheinländer —, sich plötzlich für den deutschen Osten zu interessieren.

Nur zwei Menschen in der 2000 Jahre alten Stadt Bonn ist der Krieg der Städte schnurzegal. Herbert, der Berber, kann die „da oben“ sowieso nicht leiden, weil sie nie ein paar Groschen für ihn haben, wenn er in der Altstadt betteln geht. Nach Berlin ziehen würde er auch nicht: „Sind schon zu viele da, die jeden Abend Platte machen.“ Und „Ramona“ tangiert die Sache ebenfalls nur peripher. Zwar gehören zum Kundenkreis der Godesberger Telefonsex- Anbieterin auch jede Menge Bonner Beamte. Bis die aber umziehen, „hab' ich mir eh 'n neuen Job gesucht“, meint sie. Und dann muß sie schnell auflegen, weil in der Mittagspause „ziemlich viele von denen anrufen“.

Morgen lesen Sie: Warum die Berliner die Regierungssitz-Debatte kaum interessiert/ Wie „liebevoll“ die Abgeordneten der neuen Länder am Rhein umsorgt werden...