Jeder ist verdächtig, alle können schuld sein

Neue Zeiten, neue Namen — die ehemalige DDR-Spartakiade nennt sich neuerdings „Talentiade“, und keiner geht hin  ■ Von Steve Körner

Alles ist verdächtig. Jeder könnte schuldig sein. Jeder. Unter Umständen sogar die kleinen Gymnastinnen, die angefeuert von Mama und Papa ihren ganzen Ehrgeiz daran setzten, ihre Körper auf abenteuerlichste Weise zu verbiegen. Spartakiade hieß das.

In jedem Jahr beteiligten sich hunderttausende Minderjährige an den sportlichen Wettkämpfen, die in jeder Vorortturnhalle, auf jedem Schulsportplatz stattfanden. Zum Ruhm der Partei und Arbeiterklasse wurde gelaufen, gesprungen, zwei- und dreigekämpft, was das Zeug hielt. Spartakiade, das war eine Institution, deren Effektivität und Wirksamkeit bei jeder Welt- und Europameisterschaft und bei der Olympiade neu unter Beweis gestellt wurde.

Ob Schwimmerin Kristin Otto, oder Eislaufstar Katharina Witt, Boxer Henry Maske oder Skispringer Jens Weißpflog — sie alle hatten irgendwann einmal als Spartakiadesieger angefangen. Im Westen hat man das ostdeutsche System der Talentförderung damals ausdauernd bewundert, bestaunt und zu kopieren versucht. Allein — es gelang nicht. In der DDR war Sport, begonnen bei der Nachwuchssuche über das Training bis hin zur Prämierung hervorragender Leistungen, Chefsache. Honecker selbst ließ es sich nie nehmen, Weltmeistern und Olympiasiegern in „persönlichen“ Telegrammen zu ihren Siegen zu gratulieren. Auf besonders erfolgreiche Vertreter des sozialistischen Sports warteten zu Hause kleinere und größere Privilegien, größere und kleinere Auszeichnungen vom schnittigen Wartburg bis hin zum vaterländischen Verdienstorden. Die einstigen Stars der einstigen sozialistischen Weltmacht sind „rübergemacht“. Nachwuchs ist nicht in Sicht. Auch von den einst bei jeder Gelegenheit zitierten 3,7 Millionen Mitgliedern des „Deutschen Turn- und Sportbundes“ der DDR sind nur noch kümmerliche Reste der Sache treu.

Das größte Problem aber, meint Sachsen-Anhalts Sportbundpräsident Klaus-Dieter Mahlzahn, ist die völlig zusammengebrochene Nachwuchsarbeit. Denn eine Jahr nach dem Ende der deutsch-demokratischen Trutzburg der Körperertüchtigung haftet auch der bis dato in Ost und West unumstrittene Institution Spartakiade der üble Geruch eine „komplett kommunistischen Erfindung“ an: Jeder ist verdächtig, alle können schuld sein.

Die Spartakiade jedenfalls mußte sterben, zu sehr erinnerte der traditionsreiche Name die Sportverwalter und Paragraphenturner an rote Traditionen und dahinvegetierende Politsekten. Aber völlig verzichten auf die erfolgreichen Erfahrungen des Ostsports will niemand. Die nächsten Olympiaden stehen vor der Tür, Weichen für die Zukunft des Sports in den neuen Ländern und damit die Stärke des sportlichen Gesamtdeutschlands werden heute gestellt. Nachdem im vergangenen Jahr nicht die FußballerInnen, HandballerInnen und LeichtathletInnen zu Hunderten in den Westen gegangen waren, soll nun neu aufgebaut werden. Deutscher Sportbund und nationales Olympisches Komitee würden es gern sehen, wenn im Nachwuchsbereich zwischen Rostock und Suhl auch künftig mit professionellen, hauptamtlichen Trainern gearbeitet werden könnte. Aber das Geld ist knapp, die Regierungen aller neuen Bundesländer haben Probleme, es ausgerechnet für den Sport auszugeben. Während die Vereine beinahe durchweg ihre Namen geändert haben, sind die Funktionäre auf Kreis- und Vereinsebene beinahe durchweg dieselben geblieben. Aber das schadet ja überhaupt nix. Umgehend haben sie, die erfahrenen Turntechnokraten, die Spartakiade wieder auferstehen lassen. Mit dem Kodenamen „Talentiade“ getarnt. Spartakus lebt. Der Mann hat Sportsgeist.

Die jungen SportlerInnen im Osten allerdings juckt das im Moment überhaupt nicht. Zwar stehen im Osten pro Kopf der Bevölkerung nur etwa zwei Drittel der Sportanlagenfläche des Westens zur Verfügung — aber dieses Drittel ist oft genug gähnend leer. Und so war Spartakiadesieger werden nie so einfach wie heute, wo es die Spartakiade eigentlich gar nicht mehr gibt: Du hast gute Chancen, als Erster durchs Ziel zu kommen — weil du allein losgelaufen bist.