Warschauer Kuchen

Kurzer Einblick in das Kleist-Theater Frankfurt/Oder  ■ Von Annette Reber

Die Wirtstochter vom „Haus des Handwerks“ in Frankfurt an der Oder konnte es schnell zusammenfassen: Die wirklichen Opfer der Revolution sind die Bauern und die Künstler. Punkt. Das Problem der Bauern erkennt man daran, daß die Felder um Frankfurt, voll Tulpen und Schnittlauch, von den Städtern abgeerntet werden. Jeder kann sich nehmen, was er will. Tulpen oder Schnittlauch. Auch Porree. Verkaufen können die Bauern nichts. Das Problem bei den Künstlern erkennt man an an ihrem Ausbleiben in bestimmten Cafés. Da saßen sie früher, rauchten, tranken, mußten sich von der Kunst erholen. Jetzt sind sie verschwunden — denn mit der Kultur, weiß die Wirtstocher, da ist es jetzt vorbei.

Das Kleist-Theater in Frankfurt/ Oder machte letzthin durch zwei Erstaunlichkeiten von sich reden. Erstens: junge Regisseure arbeiteten dort. Deren innovative Inszenierungen lockten Zuschauer in das Kleist- Theater, die auch längere Anfahrtswege nicht scheuten. Zweitens wird das Theater von Frauen geleitet. Das ist selten, das ist gut, und beides zusammen sollte man sich anschauen.

Das Problem muß zu Anfang benannt werden. Das Theater, das den verpflichtenden Namen „Heinrich von Kleist“ trägt, steht vor großen Schwierigkeiten:

Geldmangel. Die 326 Mitarbeiter (davon 28 Schauspieler, 22 Solisten des Musiktheaters) wissen im Mai nicht, ob im Juni noch gespielt werden kann. Das zur Aufrechterhaltung des Spielbetriebs nötige Geld wird von der Stadt monatsweise zugestellt. Das Frankfurter Theater kann sich nicht einmal ein Plakat leisten, auf dem der Spielplan nachzulesen ist. Die Vorstellungstermine muß man auf einem Anschlag, der sämtliche Kulturtermine der Stadt aufzeigt, mit der Lupe suchen. Von Inszenierungsplakaten nicht zu reden. Gäste, aus Ost oder West, die das Theater beleben, neue Ideen und Handschriften einbringen könnten, finden sich für die zur Verfügung stehenden Gagen (1.200 Mark brutto, etwa 900 Mark auf die Hand) kaum bereit, auch nur eine Garderobe zu betreten.

Zuschauermangel. Das heimische Publikum zeigt derzeit, wie überall im neuen Lande, wenig Interesse für Dramatik. Zudem befindet sich das Theater an ungünstigem Ort. Abseits vom Zentrum. Der unerfahrene Besucher irrt bis an die Ränder der nächstgelegenen Dörfer, um es zu finden. Steht er davor, hält er das Ende der dreißiger Jahre als Ausbildungsstätte für Musikpädagogen gebaute und 1945 von der sowjetischen Kommandantur als Spielstätte zur Verfügung gestellte Haus für die Säuglingsstation.

Früher, erzählt die Chefdramaturgin Kabel, gab es eine Theater- Straßenbahn, die das Publikum nach der Vorstellung wieder ins Zentrum der Stadt beförderte. Heute fährt die Straßenbahn Nummer Zwo nach Fahrplan. Ihr kleiner werdendes Schlußlicht ist oft der Epilog zum Abend. Und auch die Taxifahrer wollen keinen Standplatz vor dem Theater einrichten, solange ihnen die Strecke Theater — Zentrum nicht rentabel erscheint.

Nach etwa dreizehn Vorstellungen ist eine Inszenierung am Kleist- Theater abgespielt. Die vergleichsweise niedrige Zahl kalkuliert ausschließlich den Zuspruch der Frankfurter Zuschauer ein. Das verhindert, daß Besucher aus umliegenden Gebieten — Berlin ist nicht weit — die Arbeiten, von denen sie Gutes hörten, sehen können. Haben sie sich zur Fahrt entschlossen, ist die betreffende Vorstellung schon wieder vom Spielplan verschwunden.

Die Auswege. Die seit der laufenden Spielzeit amtierende Intendantin, Maria Luise Preuß, hat im Sinn, gemeinsam mit der Kleist-Gedenkstätte jährliche Kleist-Festwochen durchzuführen. Das erste Mal werden sie vom 17. Oktober bis 21. November 1991 stattfinden. Beginnend mit eigenen Inszenierungen von Prinz Friedrich von Homburg und einem Stück über Kleists Selbstmord, sollen bis zum Sommer 1992 sozusagen alle Kleist-Stücke im Repertoire des Hauses sein. Ein guter Ansatz, wird doch Frankfurt an der Oder wieder Universitätsstadt; mit dem an Umberto Ecos Erasmus-Projekt erinnernden Plan von einer Europa- Universität, die bereits ab Sommer dieses Jahres mit ersten Fakultäten eröffnet werden soll, ist auch ein studentisches und internationales Publikum zu erwarten. Frankfurt, dessen Grenze zwischen Ost und West heute mehr trennt, als dem vertrauten Betrachter die „Oder-Neiße-Friedens- Grenze“ je trennend erschien, kann damit zu einem Zentrum der Wissenschaft und der Jugend werden, an dem sich Nationalitäten, Systeme und Kulturen begegnen.

Außerdem gibt es Überlegungen, das Theater aus der zuschauerfeindlichen Nuhnen-Vorstadt in die Mitte des Zentrums zu verlegen. Dort steht ein überaus passendes, von Baustil, Größe und Lage geradezu fürs Theaterspielen prädestiniertes Gebäude. Doch darin ist das „Lichtspielthater der Jugend“ untergebracht — man könnte auch Kino dazu sagen.

Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Die Stadt lebte vom Halbleiterwerk. Von dessen 8.000 Beschäftigten werden zum Sommer 7.000 entlassen. Bezogen auf die 87.000 Einwohner der Oder-Stadt macht das fast 10 Prozent Arbeitslose auf einen Streich. Die Stadt ist pleite, der Theaterbesucher auch.

Im Augenblick versucht Intendantin Preuß, dem Geld- und Zuschauermangel durch Eigeninitiative zu begegnen. Es werden „Kulturfahrten“ für West-Berliner organisiert. Die mit Bussen hinkutschierten Kultur-Interessierten lernen Frankfurt/Oder als Kleist-Stadt kennen: der Besuch des Kleist-Museums, der Marien-Kirche und einer Kaffeetafel wird mit einem Abend im Kleist-Theater abgeschlossen. Die Resonanz ist gut. Aber davon wird das Theater nicht voll. Wieviele Teilnehmer der Kleist-Kaffeefahrt werden selbsttätig in das Frankfurter Theater zurückkehren?

Die Räume der Intendanz erinnern an eine Gedenkstätte sozialistischer Möbelkunst. Doch das mit der Intendantin und ehemaligen Immobilienmaklerin verabredete Gespräch kann leider nicht stattfinden. Frau Preuß ist erkrankt. Dafür steht Lutz Günzel Antwort und Rede. Seit sieben Jahren ist er am Kleist-Theater engagiert, bis vor vier Jahren hat er ausschließlich als Regisseur gearbeitet, dann wollte er kein „Amt“ mehr. Er fand die Arbeit nicht mehr kreativ.

Günzel ist rigoros: Der Spielplan sei das, was seine Oma „Warschauer Kuchen“ nannte. Der Bäcker fegt alle Kuchenkrümel vom Fußboden zusammen, die so rumliegen, und manscht daraus Rumkugeln. Ein Horizont der nur noch bis zu Cats reicht.

Der Regisseur und Schauspieler, der manchmal vor fast leerem Zuschauerraum spielen muß („Das braucht eine Menge Kraft!“), hält einen mittelständischen Spielplan für den verkehrten Weg. „Bis zum Ende der Spielzeit '92 sollen unter anderem Anatevka, Cabaret und die Rocky Horror Show inszeniert werden, also lauter Sachen, die im Westen irgendwann, vor Ich-weiß-nicht wievielen Jahren, Erfolgsdinger waren. Politisches Theater, wie wir es kannten, das auf aktuelle Fragen der Zeit, der Menschen, der Stadt zu antworten versucht, wird zu wenig erwogen. Deswegen wollen die guten jungen Regisseure wie Leander Haußmann oder Andreas Kriegenburg, der jetzt an die Volksbühne in Berlin geht, hier auch nicht mehr arbeiten. Als die Kabale und Liebe-Inszenierung von Haußmann nicht das Wohlwollen der Kulturleute der Stadtregierung fand, gab es die Idee, man könnte das Stück ja nochmal machen, und zwar ,wie es richtig ist‘, im Sinne des Literaturunterrichts. Das muß man sich mal vorstellen!“

Der sich anbahnende Ausweg mittels eines mutigen, engagierten und auffälligen Spielplans, der Regisseure wie Haußmann, Kriegenburg oder Michael Funke präsentierte, wurde auf halber Strecke blockiert. Wäre damit nicht ein neues Stammpublikum von nah und näher fern zu gewinnen gewesen? Manche Inszenierungen dieser teils sehr gefragten Regisseure sind schon wieder vom Spielplan verschwunden, noch ehe sie sich wirklich herumsprechen konnten. Die Lust auf Frankfurt/ Oder und sein Publikum scheint den Macherinnen vergangen.

Der in Arbeit befindliche Spielplan bis Sommer 1992 ist (bis auf die Kleist-Systematik) voll von Zufälligkeiten. Neben neugierig stimmenden Kombinationen wie Becketts Das letzte Band und Karges Jacke wie Hose an einem Abend oder den Premieren innerhalb der Kleist-Festwochen firmieren Alternativ-Vorschläge, die zwischen Zuschauergunst und Konzept lavieren. Fledermaus oder Die Macht des Schicksals...?

Die Abendvorstellung im Kleist- Theater brachte Kleists frühes Stück Die Familie Schroffenstein. Das selten gespielte Stück, von Michael Funke mit klaren Strichen zu einem atemlosen Finale inszeniert, wurde von ausgezeichneten Schauspielern in einem genialen Bühnenbild von Martin Fischer gespielt. Allein die Darstellung des Rupert Graf von Schroffenstein aus dem Hause Rossitz durch Lutz Günzel hätte ausgereicht, um die Welt von Frankfurt/ Oder nicht mehr zu verstehen. Fünf Minuten vor der Vorstellung wurde entschieden, ob man vor den anwesenden zwanzig Zuschauern überhaupt spielt...

Im nahegelegenen Eisenhüttenstadt wurde zur gleichen Zeit ebenfalls Kleist gespielt. Im Kulturhaus. Manfred Krug gab den Dorfrichter Adam im Zerbrochnen Krug.

Vor achthundert Zuschauern.