Li Pengs neue Chinesische Mauer

■ Der größte Staudamm-Bau aller Zeiten an Chinas Yangzi könnte noch 1991 grünes Licht erhalten. Hinter dem Streit um das Lieblingsprojekt des Ministerpräsidenten verbirgt sich eine Modernisierungs-Kontroverse/ VON EVA STERNFELD

Aufwendiger war nur der Bau der Großen Mauer. Das geplante Staudammprojekt in den drei Yangzi- Schluchten soll einmal das größte Wasserkraftwerk der Welt werden. Ein triumphales Symbol für die technischen und ökonomischen Errungenschaften des neuen China, erhoffen sich die einen. Eine kaum zu bewältigende Belastung des Staatshaushalts und Abhängigkeit von ausländischen Kreditgebern und Technologien, befürchten dagegen die anderen. Dritte wiederum prognostizieren katastrophale Folgen für die natürliche und soziale Umwelt der äußerst fruchtbaren und produktiven Yangzi-Region.

Seit nunmehr 60 Jahren ist die Diskussion um den größten Staudamm aller Zeiten der Seismograph für die politische und ökonomische Entwicklung Chinas. Ist der Huanghe die Wiege der chinesischen Zivilisation, so ist der Yangzi ihre Lebensader. Der Ausgang der Kontroverse um das Staudammprojekt wird über das Schicksal der Menschen in einer der bevölkerungsreichsten Flußregionen der Welt entscheiden. Nach den aktuellsten Planungen sieht das Sanxia-Projekt vor, in den berühmten drei Yangzi-Schluchten einen über 180 Meter hohen und 2.000 Meter langen Staudamm zu errichten. Zwischen Fengjie in der Provinz Sichuan und Yichang in der Provinz Hubei würde er die Fluten des drittlängsten Stromes der Welt in einem sich über 500 Kilometer erstreckenden Reservoire stauen.

Gleichermaßen gigantisch wie die Dimensionen des Staudammes ist seine Energieleistung. Das Wasserkraftwerk soll zwischen 13.000 und 18.000 Megawatt liefern, das ist etwa ein Siebtel dessen, was die Chinesen jedes Jahr an Strom verbrauchen. Die Elektrizität könnte jene Energielücke schließen, die sich als eines der größten Hindernisse bei der Realisierung der ehrgeizigen Modernisierungs- und Industrialisierungspläne darstellt. Der Damm würde zumindest für die Region flußabwärts einen wirksamen Schutz vor Überschwemmungen bieten. Er ermöglicht es, die Fluten des Yangzi in die vom Wassermangel betroffene nordchinesische Tiefebene und die Hauptstadt Beijing zu leiten. Für das Projekt sind 17 Jahre Bauzeit vorgesehen, die Kosten werden sich nach vorläufigen Schätzungen auf mindestens 20 Milliarden US-Dollar belaufen.

In der Kontroverse der vergangenen Jahre haben chinesische und ausländische Gegner des Sanxia-Projektes wiederholt auf die erheblichen Auswirkungen hingewiesen, die der Staudamm für die soziale und natürliche Umwelt der Yangzi-Region hat. Sorgen bereiten insbesondere Umsiedlungsmaßnahmen. Der Stausee wird zehn kleinere Städte und fruchtbares Ackerland überfluten, dafür müßten zwischen einer und 1,3 Millionen Menschen aus dem Projektgebiet umgesiedelt werden. Außerdem seien aufgrund fehlender Untersuchungen die sozialen Folgen kaum kalkulierbar.

Das Betonungetüm am Yangzi droht „der verheerendste Staudamm zu werden, der jemals gebaut wurde“, artikuliert Brent Blackwelder vom Environmental Policy Institute in Washington die Befürchtungen der Ökologen. Betroffen ist ein Ökosystem, das ohnehin bereits bis an die Grenze belastet ist. Das Bevölkerungswachstum in der Yangzi-Region erfordert eine immer extensivere Nutzung des Ackerlandes, Forstressourcen fallen zunehmend der Landgewinnung und dem Brennstoffbedarf zum Opfer. Dies führte dazu, daß heute bereits etwa 40 Prozent der gesamten Yangzi-Region von der Erosion betroffen sind.

Erosion ist unter anderem auch die Ursache dafür, daß der Yangzi- Fluß die dritthöchste Schlammfracht der Welt transportiert. Das birgt Verstopfungsgefahr. Denn ein Großteil der Sedimente, die er mitführt, würden sich nach Prognosen der Ökologen im Sanxia-Reservoir ablagern. Das könnte nicht nur den Yangzi für stromaufwärts fahrende Schiffe unpassierbar machen: auch würde sich die Überschwemmungsgefahr am Mittel- und Oberlauf noch erhöhen. Doch damit nicht genug. Der fruchtbare Schlamm, den der Damm wie ein Sieb zurückhalten würde, ginge flußabwärts als Nährstoff verloren.

Die Befürchtungen der Umweltschützer lesen sich wie ein Horrorszenario: Durch den reduzierten Wasserfluß dringt womöglich Salzwasser ins Mündungsgebiet des Yangzi vor, wo die Bewohner Shanghais sich mit Trinkwasser versorgen. Gewarnt wird auch vor der in den drei Schluchten schon heute herrschenden Erdrutschgefahr mit entsprechenden Überschwemmungen. Befürchtet wird weiter das Aussterben von seltenen Spezies, wie zum Beispiel der Flußdelphine, die nur noch im Yangzi leben. Klimatische Veränderungen, Zunahme von Krankheiten wie Malaria, Typhus etc. und die landschaftliche Zerstörung der einmaligen Szenerie der drei Schluchten werden zudem prognostiziert.

Das Sanxia-Projekt ist ein langgehegter Plan. Bereits in den 20er Jahren regte Sun Yatsen, der erste Präsident der Republik China, den Bau eines Wasserkraftwerks in den Yangzi-Schluchten an. 1944 beauftragte die Ressourcenkommission der Guomindang-Regierung einen amerikanischen Ingenieur mit der Erstellung eines Gutachtens. John L. Savage, Chefingenieur des U.S. Bureau of Reclamation, hatte sich in den USA bereits einen Namen als Konstrukteur von Staudämmen gemacht. Seine Planung sah den Bau eines „Super-Staudamms“ mit ausschließlich amerikanischer Technologie und Know-how vor. Die Baukosten sollte China durch eine Art Barter-Handel begleichen. Eine Kunstdüngerfabrik, die gleichzeitig mit dem Staudamm geplant war, sollte über 15 Jahre Millionen von Tonnen Dünger an die USA liefern.

Als 1949 die Volksrepublik China ausgerufen wurde, kam das chinesisch-amerikanische Joint-venture nicht mehr zustande. Aber der Traum von einem ungeheuren Staudamm in den Yangzi-Schluchten wurde auch im kommunistischen China weitergeträumt. 1958 beschloß das Politbüro des ZK die Wiederaufnahme des Sanxia-Projekts, das nun mit materieller und ideeller Unterstützung der Sowjetunion verwirklicht werden sollte. Nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1960 verschwand das Sanxia-Projekt vorerst wieder in der Schublade. Auf „die eigene Kraft bauen“ hieß nun die Devise. Gemäß Maos Parole von der Dezentralisierung setzte China nun auf kleine und mittlere Wasserkraftwerke mit Leistungen bis 50 Megawatt, die mit chinesischer Technologie ausgerüstet werden konnten.

Die Sanxia-Pläne wurden konkret, als sich China Ende der 70er Jahre zu Modernisierung und ökonomischen Reformen bekannte. Die Verwirklichung von Chinas Modernisierungsanstrengungen ist nur möglich, wenn die nötige Infrastruktur, insbesondere ausreichend Energie, bereitgestellt werden kann. Daß Sanxia in den 80er Jahren zum zentralen Thema der Energiepolitik avancierte, ist vor allen Dingen der Hartnäckigkeit eines Mannes zuzuschreiben, der sich mit dem Bau des größten Wasserkraftwerks der Welt auch einen persönlichen Traum erfüllen möchte: dem heutigen Ministerpräsidenten Li Peng. Seinerzeit, 1981, übernahm er als Ingenieur und Energiefachmann das chinesische Energieministerium.

Nach seinem naturwissenschaftlichen Studium in Moskau hatte Li Peng in den 50er Jahren als stellvertretender Direktor und Chefingenieur des Fengman-Kraftwerks in der Provinz Jilin gearbeitet, damals das größte Wasserkraftwerk Chinas. Seither hatte er kontinuierlich führende Posten in der chinesischen Energiewirtschaft und Energiepolitik inne. Schritt für Schritt rückte Li Peng auf in die inneren Zirkel der Macht, wo er zum obersten Promoter von Sanxia gerierte. 1984 wurde er, inzwischen zum Vizepremier und unter anderem zum Vorsitzenden der Energiekommission aufgestiegen, Leiter der neugeschaffenen Führungsgruppe für die Überprüfung von Studien über das „Sanxia-Staudammprojekt“ beim Staatsrat. Im gleichen Jahr gab er bekannt, daß China für das Projekt ausländische Investoren zur Zusammenarbeit einlade. Man kehrte zu alten Partnern zurück. Noch im selben Jahr unterzeichnete das U.S. Bureau of Reclamation einen Fünf-Jahres-Vertrag für die technische Unterstützung und Beratung des Yangzi-Planungsbüros. China zahlte für die Beratung eine Million US-Dollar.

Ein Jahr später, 1985, stellte das Yangzi-Planungsbüro eine erste vorläufige Planung vor. Und erstmals wurde scharfe Kritik an dem Projekt geäußert. Unabhängig von den Untersuchungen der Li Peng unterstellten Führungsgruppe wurde im Auftrag der Politischen Konsultativkonferenz eine 38tägige Recherche im Projektgebiet durchgeführt. Der Untersuchungsbericht wies auf die soziale und ökologische Problematik des Projekts hin. Er plädierte dafür, die Sanxia-Pläne aufzugeben und dafür 20 kleinere Kraftwerke zu bauen.

Aufgrund dieser Kritik wurde das Sanxia-Projekt 1986 nicht in den 7.Fünfjahrplan aufgenommen. Statt dessen beauftragte der Nationale Volkskongreß das Ministerium für Wasserressourcen und Elektrizitätswesen eine Kommission zur Überprüfung der Durchführbarkeit des umstrittenen Projekts zu bilden; über 300 Experten sollten zu insgesamt 14 Problembereichen neue Gutachten vorlegen. Li Peng, mittlerweile Star der chinesischen Medien und zu diesem Zeitpunkt bereits als möglicher Nachfolger Zhao Ziyangs gehandelt, wurde — Leiter der Überprüfungskommission.

Wieder boten ausländische Interessenten ihre Dienste an. Ein kanadisches Konsortium, an dem fünf kanadische Wasserbau- und Elektrokonzerne beteiligt sind, erhielt den Zuschlag für die Erstellung einer Durchführbarkeitsstudie zur Vorlage bei der Weltbank.

Hinter der Kontroverse, die sich vordergründig an ökonomischen und ökologischen Argumenten festmacht, stand der Konflikt in der chinesischen Führung um die Dimension ökonomischer Reformen. Dieser Konflikt entwickelte sich im Laufe des Jahres 1986 immer mehr zu einer Auseinandersetzung um die Notwendigkeit politischer Reformen. Studentendemonstrationen für Demokratie und Menschenrechte zum Jahreswechsel 1986/87 sowie der erzwungene Rücktritt des für die Demonstrationen verantwortlich gemachten Hu Yaobangs setzten das Fanal für eine innenpolitische Krise, die in dem Militäreinsatz gegen die Demokratiebewegung 1989 kulminieren sollte.

Politische Inhalte bestimmen nun auch die Sanxia-Kontroverse. Die ging über die ökonomischen und ökologischen Streitpunkte hinaus, drehte sich um Fragen demokratischer Entscheidungsstrukturen, um Presse- und Informationsfreiheit, um die Funktion der Wissenschaft.

Demokratie und Wissenschaft, die Forderungen der 4. Mai-Bewegung, deren 70. Jahrestag bevorstand, begegnen uns stereotyp in allen kritischen Beiträgen über das Sanxia-Projekt, die bis zum Frühjahr 1989 erschienen sind.

Verurteilt wurde die Zensur der Informationen über Sanxia durch die Behörden. Die Überprüfungskommission sei nicht demokratisch zusammengesetzt. Zehn der 14 Untersuchungsgruppen ständen die Vize- Minister und Chefingenieure des Ministeriums für Wasserressourcen und Elektrizitätswesen vor. Kritische Beiträge seien nicht in die Kommissionsberichte aufgenommen worden. Schlußfolgerung der Sanxia-Opposition: Die Arbeit der Kommission sei eine Farce.

Trotz dieser Einwände meldete die Überprüfungskommission planmäßig Anfang Dezember 1988 Vollzug. Die Untersuchungen seien abgeschlossen, das Projekt durchführbar. Zu ähnlichen Ergebnissen kam übrigens die kanadische Studie.

Der Entscheidung der Überprüfungskommission folgte eine Kritikkampagne in der chinesischen Presse, in der nun auch prominente VerfechterInnen der politischen Reformen Stellung bezogen. So versammelten sich im Februar 1989 in Beijing 90 Intellektuelle und Künstler, um dem Erscheinen eines weiteren kritischen Buches über das Projekt Publizität zu verschaffen. Herausgeberin des Buches ist die Journalistin Dai Qing, die später im Juli 1989 unter dem Vorwurf, dem Beraterstab Zhao Ziyangs angehört zu haben, verhaftet wurde.

Ende März 1989 spitzten sich die Konflikte in der chinesischen Führung bereits zu. Hu Yaobang trat zum ersten Mal seit seinem Rücktritt wieder in der Öffentlichkeit auf. Auf den Sitzungen der Politischen Konsultativkonferenz und des Nationalen Volkskongresses debattierten die Abgeordneten in einer für chinesische Verhältnisse unglaublichen Offenheit und Schärfe. Die Debatten wurden ausführlich im Fernsehen übertragen.

Im Nationalen Volkskongreß stimmten 270 Abgeordnete gegen einen Baubeginn des Sanxia-Projekts. Obwohl dies nur 10 Prozent Gegenstimmen waren, ein für chinesische Abstimmungsverhältnisse ungewöhnliches Ergebnis. Schließlich folgte Anfang April 89 die große Überraschung: Der Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission, Vizepremier Yao Yilin, gab überraschend bekannt, der Baubeginn des Sanxia-Projekts sei verschoben, es werde nicht in den 8. Fünfjahresplan aufgenommen. Mögliche ökologische Auswirkungen des Projekts bedürften weiterer Untersuchungen.

Es sollte nur ein kurzer Triumph für die Demokraten und Ökologen sein. Mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung gewannen die Befürworter des Projekts politisch die Oberhand. Prominente Kritiker wurden zum Schweigen verurteilt oder emigrierten. Mit Widerstand der staatlichen Planungskommission dürfte nicht mehr zu rechen sein, seit im Dezember 1989 ihr Vorsitzender Yao Yilin durch Zou Jiahua abgelöst wurde. Zou, der Anfang April dieses Jahres zum Vizepremier ernannt wurde, gilt ebenfalls als Mitglied jener Gruppierung in der chinesischen Regierung, die intern auch als „Shui- Dian-Bang“ (Wasser-Strom-Bande) bezeichnet wird.

Im vergangenen Jahr berief Ministerpräsident Li Peng zur abermaligen Beratung ein 76köpfiges Expertengremium ein. Noch haben sich allerdings die Befürworter des Projekts nicht durchsetzen können. Wie Energieminister Huang Yicheng, ohne auf die näheren Gründe einzugehen, Anfang April der chinesischen Presse offiziell mitteilte, werde das Projekt nicht in den 8. Fünfjahresplan aufgenommen, da die Bedingungen noch nicht „reif“ dafür seien. Man gehe jedoch davon aus, daß der Evakuierungsbericht der chinesischen Expertenkommission noch in diesem Jahr dem Staatsrat vorgelegt und 1992 durch den Natioanlen Volkskongreß gebilligt werde.