Gestohlene Demokratie

Auch Edith Cresson umgeht die Nationalversammlung  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Ein undemokratisches Spiel beherrscht die Beziehungen zwischen Regierung und Parlament in Frankreich. Einen Monat nach ihrer Ernennung hat nun auch Premierministerin Edith Cresson den Eröffnungszug getan: Weil sie für ihren „Gesetzentwurf über diverse Anordnungen wirtschaftlicher und finanzieller Art“ — „DDOEF“ genannt — nicht mit einer Mehrheit rechnen konnte, setzte sie nach Zustimmung des Ministerrats das Gesetz kurzerhand auf eigene Verantwortung durch — ohne Abstimmung der Nationalversammlung. Möglich macht dies der Verfassungsartikel 49 Absatz 3.

Die rechte Opposition reagierte sogleich: Sie beantragte ein Mißtrauensvotum — das erste gegen die neue Regierungschefin — über das gestern abend abgestimmt werden sollte. Der Antrag hat skurrile Züge, verfügen doch die bürgerlichen Abgeordneten allein gar nicht über die notwendigen Stimmen, um die Regierung zu stürzen. Die kommunistische Opposition aber hatte dem Votum von vornherein jegliche Chance genommen: An dem „erbärmlichen Manöver“ der Rechten würden sich ihre Abgeordneten keinesfalls beteiligen, erklärte die PCF, die mit Blick auf die Regionalwahlen 1992 die Nähe zu den Sozialisten sucht. Früher einmal hatten sich die Kommunisten für die Abschaffung des Verfassungsartikels eingesetzt, doch das ist zwanzig Monate her. Juristisch ist das Regierungsvorgehen korrekt: Der Verfassungsartikel beruht auf den Erfahrungen der Vierten Republik; er verhindert, daß Zufallsmehrheiten die Regierung stürzen und dann nicht in der Lage sind, eine regierungsfähige Alternative zu bilden.

Cressons Vorgänger Michel Rocard war ein Meister des undemokratischen Spiels; er griff 27mal auf den Artikel zurück. Denn seit den letzten Wahlen kann eine sozialistische Minderheitsregierung Gesetze nur durchbringen, wenn sich Teile der Opposition enthalten. Übergehen lassen sich so auch Zweifel in der eigenen Fraktion.

Die Ohnmacht der französischen Parlamentarier beunruhigt offenbar nur die Betroffenen selbst. „Wer derart den berühmten Absatz 3 benutzt, der leugnet das fundamentale Recht dieser Vertretung, über das Gesetz abzustimmen; der leugnet in ihrer Gesamtheit die Gewählten der Nation und infolge dessen das allgemeine Wahlrecht, durch das sie bestimmt werden. Auf diese Weise stiehlt man dem Volk die Demokratie“, kritisierte ein Oppositionsabgeordneter 1979 die Regierung Barre. Der Mann hieß Francois Mitterrand.