Die Armee hat Algeriens Hauptstadt voll im Griff

Zwei Wochen nach Verhängung des Ausnahmezustandes sind in Algier öffentliche Versammlungen immer noch verboten/ Gerüchte von Waffenlagern in Moscheen und gekappten Telefonleitungen/ Islamische Heilsfront spricht von „Militärputsch“  ■ Aus Algier Franz Reppert

Algier, eine Stadt im Ausnahmezustand: Seit nunmehr 14 Tagen sind in der algerischen Hauptstadt öffentliche Versammlungen verboten, das Militär darf nahezu uneingeschränkt Verhaftungen vornehmen. Einige Dutzend Aktivisten der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) wurden bereits festgenommen, die Presse druckt Telefonnummern, bei denen sich „irregeleitete“ Jugendliche den Behörden stellen können. Nachts sind vereinzelt Schießereien zu hören — doch die Armee hat die Stadt voll im Griff. Ab und zu zeigt sie an öffentlichen Plätzen im Stadtzentrum demonstrativ Präsenz. Zumeist aber begnügt sie sich damit, die Hauptverkehrsadern zu den Armensiedlungen zu überwachen. Im Aufruhrviertel Bab el-Oued stehen fünf Panzer und eine Handvoll gelangweilter Soldaten neben der festungsähnlichen Polizeistation. Vor Beginn der Ausgangssperre um 23 Uhr rühren sich die Bajonette keinen Zentimeter — selbst wenn man in der Abenddämmerung über die hölzerne Barriere steigt, um das Kriegsgerät zu begutachten.

Als Ali Belhadj, Nummer zwei der FIS, am Freitag in Bab el-Oued zur Predigt erschien, wurde er jedoch von Fallschirmjägereinheiten empfangen. Und die Satellitenstadt Kouba, Hochburg der FIS, war von Soldaten völlig abgeriegelt: Hier predigten Belhadj und FIS-Führer Abassi Madani. Obwohl die Armee das zuvor verhängte Verbot, sich auf den Straßen zum Gebet zu versammeln, diskret lockerte, machte sich die FIS-Führung über ihren gegenwärtigen Stand keine Illusionen. „Man will uns ins Exil treiben“, wetterte Belhadj. Madani sprach von „Aggression“ und „Militärputsch“ und forderte das Militär auf, „die Einkesselung der Moscheen zu beenden“.

Von einem Sieg der Islamisten, wie ihn noch vor einer Woche die internationale Presse beschwor, sprach am Wochenende hier keiner mehr. Im Gegenteil: Die FIS scheint an Boden zu verlieren. Es kursieren Geschichten von Waffenlagern in Moscheen, von nächtlichen Messerstechereien, von gekappten Telefonleitungen. „Es gibt zwei Armeen in diesem Land: die der Regierung und die der FIS“, erklärt ein Universitätsprofessor. „Politisch haben die Islamisten keine Chance mehr. Sie sind nur noch in der Lage, Angst zu verbreiten.“ Ein Taxifahrer bringt diese Stimmung auf den Punkt: „Diese Leute wollen doch nur Gewalt“, redet er sich in Rage. „Ich will ein schönes Leben, mehr nicht. Aber die FIS — wissen Sie, was das ist? Bärte, Messer und Mafiosi.“

Der bisher allein regierenden „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN) nützt dies jedoch wenig. Die wahrnehmbare Staatsmacht besteht zur Zeit allein aus Staatspräsident Chadli und dem Militär. Die FLN ist auf Tauchstation gegangen und versucht zaghaft, sich als frischgebackene Oppositionspartei zu präsentieren. Seitdem der FLN-Premierminister Hamrouche am Tag der Verhängung des Ausnahmezustands zurücktrat, steckt die Partei in einer tiefen Identitätskrise. „Die FLN als Einheitspartei hat ihre endgültige Niederlage erlitten“, sagt im Radio ein Führer der kleinen „Algerischen Erneuerungspartei“ (PRA). „Diese Niederlage hat ihr das Militär zugefügt. Als Staatspartei ist sie am Ende.“

Große Hoffnungen richten sich nun auf den neuen Premierminister Ghozali, der zwar ebenfalls der FLN-Führung angehört, aber gestern abend eine aus „unabhängigen Persönlichkeiten“ bestehende Übergangsregierung vorstellen wollte. Sie soll Algerien bis zu den Wahlen im Herbst führen. Zu ihrer Bildung wurde erstmals die linke Opposition zu Konsultationen herangezogen. Unter den Namen, die als zukünftige Minister gehandelt wurden, befanden sich Intellektuelle, Wirtschaftsmanager und sogar ein Parteigänger des Sozialisten Hocine Ait Ahmed.

Regierungsnahe Medien beschwören unterdesen die „Einheit der Nation“. Durch Pressekolumnen geistert das Gespenst einer „Libanisierung Algeriens“. Eine regelrechte Hetzkampagne entwickelt sich gegen Ausländer: Täglich präsentieren Radio und Fernsehen einige „Touristen“, die mit modernen Waffen, Fernmeldeausrüstung und Tötungshandbüchern aufgegriffen worden sein sollen und nun als „heilige Krieger“ im Dienst einer „ausländischen Verschwörung gegen das demokratische Experiment Algeriens“ dargestellt werden. Am vergangenen Sonntag waren es zwei verhaftete Franzosen, die als ständig wiederholte Spitzenmeldung dienten. „Touristen oder Spione“, titelt die offiziöse Tageszeitung 'Quotidien d'Algérie‘, schwadroniert von Waffen und Drogen, ruft zur Schließung der Grenzen auf und weiß auch gleich, wer für die Krise des Landes verantwortlich ist: „Franzosen, Deutsche, Schweizer, Sudanesen und Afghanistan-Kämpfer.“