Tschernobyl-Experte verschwunden

■ Polnische Atomenergieagentur, Interpol und Ministerien stellen Nachforschungen an

Warschau (taz) — Am 4. Mai dieses Jahres hielt sich Professor Anatolij Wolkow, Mitglied des Weißrussischen Parlaments und des Sonderausschusses zur Untersuchung der Atomkatastrophe von Tschernobyl, in Darlowo bei Danzig zu einem Vortrag auf. Eingeladen hatte ihn die Franziskanische Ökologiebewegung zu einem Seminar über Tschernobyl. Dazu hatte der Professor auch tatsächlich einiges zu sagen. Seine Ausführungen, so Jerzy Jaskowski, Danziger Strahlenbiologe und Gastgeber des Professors, seien weit über das hinausgegangen, was die Sowjetunion als offiziellen Bericht bei der Internationalen Atomenergieagentur in Wien vorgelegt habe.

Kurz nach dem Vortrag verschwand der Professor das erste Mal. Er war auf Einladung von General Dubynin nach Liegnitz (Legnica) im äußersten Südwesten Polens gefahren, um sich mit Soldaten — „meinen Wählern“, wie er erklärte — der dort stationierten Sowjettruppen zu treffen. General Dubynin ist in Polen vor allem als Bevollmächtigter für die Stationierung der Roten Armee in Polen und als absoluter Hardliner in Fragen des Truppenrückzugs bekannt. Er lud dann auch polnische Journalisten zu einer Pressekonferenz mit Wolkow ein, nachdem dieser vermißt gemeldet worden war. Einer der anwesenden polnischen Journalisten: „Wolkow war völlig gelöst und offen, er schien unter keinerlei Druck zu stehen, es wurde von seiten der Gastgeber zu keinem Zeitpunkt versucht, irgend jemanden unter Druck zu setzen oder in seiner Redefreiheit zu beschränken.“

Das war das letzte Mal, daß Professor Wolkow gesehen wurde. Ursprünglich sollte er von Legnica mit einem von Dubynin gestellten Wagen zurück nach Danzig zu Jaskowski gebracht werden. Der sowjetische Konsul in Danzig erklärte später, er sei zum Konsulat und von dort aus am nächsten Morgen direkt zum Truppenstandort Borne-Sulinowo gefahren. Seither ist der Professor verschwunden. Eine Gruppe polnischer Physiker, die schon zuvor eine Forschungsreise nach Weißrußland zur Untersuchung der Kinder von Tschernobyl antreten sollte, mußte plötzlich zu Hause bleiben — die Behörden in Pinsk sagten die Reise überraschend ab. Das polnische Konsulat in der weißrussischen Republik stellte inzwischen fest, daß Professor Wolkow bisher nicht auf der Rednerliste des Parlaments aufgeführt ist.

Nachdem der Professor auch keinen der ursprünglich nach dem 4. Mai geplanten Vorträge in Polen gehalten hat, schalteten Jaskowski und die polnische Staatliche Atomenergieagentur die Behörden ein. Wie ein Danziger Polizeisprecher mitteilt, wird der Professor nicht offiziell gesucht, weil keine entsprechende Vermißtenanzeige von Verwandten des Professors oder den sowjetischen Behörden vorliege. Inzwischen haben sich Innen- und Außenministerium allerdings an Interpol Moskau gewandt mit der Bitte, den Aufenthaltsort des Professors festzustellen. Nach Presseberichten ist er bisher nicht in seiner Wohnung in Pinsk angekommen, wohin er nach Angaben des Danziger sowjetischen Konsulats gereist sein soll. Klaus Bachmann