Der Bundestag, der fehlt hier bloß!

Der Hauptstadt-Report, Teil 2: Am Rhein läuft die Kampagne „Ja zu Bonn“ auf Hochtouren, an der Spree kommt kaum Begeisterung auf/ Peinliche Lieder und eine protzige Anzeigenserie für Berlin  ■ Von Claus Christian Malzahn

Es war einmal eine eingemauerte Stadt, in der es keinen Sperrbezirk und selten Autostaus gab. Zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern und ihren ungeliebten Bekannten und Verwandten in Westdeutschland wachte sorgsam die Rote Armee; dermaßen abgesichert, hatte die Halbstadt den Ruf einer Trauminsel. Doch die Idylle ist perdu. Kannten die Westberliner bis vor einem Jahr das Metropolenwort „bad neighbourhoods“ nur aus Fernsehreportagen über New York, so haben sie die Bezirke, in die man wegen brutaler Skin-Banden lieber nicht fahren sollte, nun direkt vor der Tür.

Die Einheit hat das Leben in Berlin auf den Kopf gestellt — und weil die Berliner zunächst einmal über alle Veränderungen motzen, ist das Mißtrauen vor weiteren Neuerungen groß. Während in der Bonner Altstadt jeder Supermarkt, jeder Kiosk, jedes Kino und jedes Taxi mit Hauptstadt-Plakaten und „Ja zu Bonn“- Aufklebern übersäht ist, scheinen die BerlinerInnen am Städtewettkampf um den Regierungssitz kaum teilzunehmen. „Wenn einem was weggenommen wird, reagiert man immer heftiger, als wenn man was geschenkt bekommt“, erklärt Konstanza Prinzessin zu Löwenstein das spärliche Engagement. Gemeinsam mit dem millionenschweren Bürowaren-Unternehmer Herlitz und dem Berliner Auktionator Bernd Schultz rief sie die „Initiative Regierungssitz Berlin“ ins Leben. Die Berlin-Lobbyisten sammelten 600.000 Mark und schalten nun Anzeigen in über 15 deutschen Zeitungen; Prominente wie der Tagesthemen-Moderator Hans-Joachim Friedrichs, der Chef des Leipziger Gewandhaus-Orchesters Kurt Masur oder die ostdeutsche Spitzensportlerin Katrin Krabbe machen sich darin für den Umzug stark.

Luftballons von Berlin nach Bonn

Weitere Initiativen: Die Taxi-Innung ließ 1.000 Luftballons vor dem Rathaus Schöneberg in die Luft steigen, damit sie im 600 Kilometer entfernten Bonn für Berlin Reklame machen. Die Ballons dürften es aber maximal bis zum Havelland geschafft haben. Der Sender Freies Berlin überredete Harald Juhnke, Romy Haag, Dieter Thomas Heck und weitere begnadete SängerInnen, eine Pro-Berlin-Single aufzunehmen. Kleine Textprobe: „Millionen Herzen für diese Stadt — ein Meer der Hoffnung, eine Brücke zur Welt.“ Auch der private Radiosender 100,6 gab ein Lied in Auftrag. Paul Kuhn schrieb die Musik, Curth Flatow den unsäglichen Text: „Die Stadt ist voll, hier ist was los, der Bundestag, der fehlt hier bloß!“

Echter Enthusiasmus will in der Hauptstadt in Sachen Hauptstadt nicht aufkommen. In Bonn reichten sich am Wochenende Tausende in einer Menschenkette die Hände, um für ihre Stadt zu demonstrieren. Der Liberale Club Berlin sagte eine für den vergangenen Sonntag geplante Regierungssitz-Veranstaltung kurzerhand ab. Begründung: Man hätte ohne Prominenz auskommen müssen. Prinzessin zu Löwenstein, die in den siebziger Jahren im Bonner Kanzleramt gearbeitet hat und nun im Berliner Wissenschaftszentrum ihr Brot verdient, ärgert vor allem der Heimvorteil der Bonner Lobby. Den haben die Bonn-Befürworter weidlich ausgenutzt. So wurde sich besonders liebevoll um die Bundestagsabgeordneten aus den neuen Ländern gekümmert. Zur Begrüßung veranstaltete die Stadt Bonn eine Schiffsfahrt auf dem Rhein für die Parlamentsneulinge. Und damit sie sich so richtig heimisch fühlen und kein Heimweh nach ihren Plattenbauten bekommen, formulierten die Bonner Stadtbeamten einen Brief an Bonner Makler, den Ostdeutschen bei der Suche nach einem Reihenhaus bitte besonders behilflich zu sein.

Der Heimvorteil der Bonner ist größer, als man glauben mag. Entschieden beispielsweise die Mitarbeiter der Berliner Landesvertretung in Bonn über den Regierungssitz, dann ergäbe sich selbst dort eine neunzigprozentige Mehrheit für die Stadt am Rhein. Das befürchtet jedenfalls Peter Kroll, der als leitender Senatsrat die Kampagne Berlins in der Landesvertretung koordiniert.

Kroll, der seit 22 Jahren in Bonn lebt, nennt drei Eckpunkte für seine Arbeit im Feindesland. Zunächst habe man herausstellen müssen, daß die Frage Bonn oder Berlin nicht unter finanziellen, sondern unter politischen Kriterien entschieden werden müsse. Zweitens habe man deutlich gemacht, daß Berlin als Standort geeignet sei — ein von der Ex-Senatorin Schreyer (AL-nah) herausgegebenes Gutachten bewies vor Jahresfrist, daß es in der ehemaligen Hauptstadt der DDR genügend Büroflächen und ausreichend Platz für Ministerien gebe. Drittens, und das regt den eher ruhigen Beamten noch heute ein bißchen auf, habe man etwas gegen die „unseriösen Umzugskostendarstellungen der Stadt Bonn“ tun müssen. Eine von Bonn bei dem Schweizer Wirtschaftsforschungsinstitut „Prognos“ in Auftrag gegebenes Gutachten erregte vor Jahresfrist erhebliches Aufsehen, weil dort die Rede von rund 80 Milliarden Mark war, die der Spaß kosten würde. Berlin spricht bis heute von „sechs bis sieben Milliarden echten Kosten“.

Prognos, so berichtet Kroll, habe sich im Vorspann von seiner eigenen Untersuchung distanziert und ausdrücklich betont, daß man nur mit Daten gearbeitet habe, die von der Stadt Bonn errechnet wurden. „Die haben Äpfel und Birnen zusammengezählt“, empört sich Kroll — wie andere Insider berichten, wurde das Gutachten dreimal von der Stadt Bonn an Prognos zurückgesandt, bis die Zahlen endlich „stimmten“.

Genau so ein Quatsch sei die Behauptung, die vom Rhein stammenden Neu-Berliner seien die Ursache kommender Wohnungsnot in Berlin. Rund 15.000 Beamte kämen in einem Zeitraum von über zehn Jahren in die Stadt, mit Anhang seien das 35.000 Menschen. Für Kroll eine „marginale Größe“. Ein gemeinsamer Bericht des Bundesinnen-, Finanz- und Bauministeriums sowie zwei andere Gutachten kamen jetzt zu dem Ergebnis, daß Berlin bis zum Jahre 2005 von zur Zeit 3,4 auf sechs Millionen Einwohner anwachsen werde — die paar Bonner machen den Kohl tatsächlich nicht fett. Kroll: „Die Metropolenprobleme bekommen wir sowieso, mit oder ohne Regierungssitz.“ Daß Berlin auch ohne Bundestag wirtschaftlich boomt, glaubt er nicht, die Liste von potenten Investoren sei bisher nicht gerade lang. „Die Entscheidung für Berlin wäre ein deutliches Signal, auf das viele Investoren warten“, meint Kroll, dem es eigentlich lieber gewesen wäre, wenn Bonn und Berlin zur Hauptstadtfrage geschwiegen und die Entscheidung dem Rest der Republik überlassen hätten.

Die Berlin-Kampagne war vielen zu protzig

Das wäre möglicherweise besser gewesen — vor allem für Berlin. Die viereinhalb Millionen Mark teure Anzeigenkampagne des rot-grünen Senats, in der sich Promis wie Udo Lindenberg, Günter Jauch, Hajo Friedrichs oder Thomas Gottschalck für Berlin stark machten, löste bei der Bonn-Lobby Tobsuchtanfälle aus, Berlin-Befürworter empfinden heute noch einen schalen Nachgeschmack. Vielen kam sie zu protzig daher, in genau der selbstgerechten Tonart der „Ickes“, die man am Rhein so haßt — Motto: Wir sind die Hauptstadt — was wollt ihr überhaupt? Als die Berliner Kampagnenmacher merkten, daß sie nicht ins Schwarze getroffen hatten, sondern ins Fettnäpfchen getreten waren, wurde die Anzeigenserie gestoppt. Pläne, die Kampagne mit Berlin-Befürwortern wie Henry Kissinger, Liza Minelli oder Teddy Kollek zu internationalisieren und damit etwas gegen den nationalen Berlin-Hauptstadt-Wirsindwiederwer-Wahn zu unternehmen, wurde in der Senatsverwaltung dagegen verpennt.

Falls Berlin Regierungssitz werde, verändere sich die Republik, fürchtet der Bonn-Lobbyist Friedel Drautzburg, der am Rhein die Kampagne gegen Berlin anführt. Da habe er recht, kommentiert Prinzessin zu Löwenstein sein Statement, schließlich „ist Deutschland nicht mehr dasselbe wie vor der Maueröffnung“. Der Kern des Hauptstadt-Hickhacks liegt für sie in der Angst, klare Entscheidungen zu fällen. Berlin müsse Regierungssitz des neuen Deutschlands werden — denn „ein bißchen schwanger gibt es nicht!“ Höchstens in der Politik, möchte man hinzufügen.

Lesen Sie in unserer morgigen Ausgabe den dritten und letzten Teil des Hauptstadt-Reports: Die KSZE- Konferenz tagt in Berlin/ Bannmeilen und Autostau — Vorgriff auf künftige Regierungsverhältnisse?