Albanien: Kein Ende des Gulag

Auch die neue Verfassung ermöglicht Inhaftierung und Verbannung als „vorbeugende Maßnahme“/ Kommunistische Partei wehrt sich gegen Diskussion über stalinistische Verbrechen  ■ Aus Belgrad Roland Hofwiler

Ein heißes, zu heißes Eisen ist in Albanien noch immer folgende Frage: Wer sind die Schuldigen der Massendeportationen, der Inhaftierung Andersdenkender und politischer Gefangener? Auf dem gerade zu Ende gegangenen Parteitag der Kommunisten sprach der neue Vorsitzende F.Nano zwar offen aus, daß mindestens 300.000 AlbanerInnen in den Jahren der kommunistischen Herrschaft Opfer von Willkürhandlungen der Behörden wurden. Doch als der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes D. Agolli Nanos Ausführungen aufnahm und Namen zu nennen begann, da entstand — laut Protokoll — „tumultartige Unruhe im Kongreßsaal“. Der Reformkommunist wagte dann, den Genossen zuzurufen: „Wir alle wissen, wer Hodscha widersprach, der verschwand im Gefängnis, im Lager oder kam sogar zu Tode.“ Hinzufügen wollte er, daß es selbst nach dem Tod des Staatsgründers 1985 den Gulag gab, aber soweit kam Agolli nicht. Reihenweise erhoben sich die Parteifreunde, und schier endlos hallte es: „Die Partei lebt — Enver, wir sind mit dir, wir sind bereit.“

Aber selbst dann, wenn man die Vergangenheit im heutigen Albanien zu bewältigen versucht, begegnet man ihren Schatten. Zeitgleich zum Wendeparteitag der Genossen verabschiedete die gerade gebildete Koalitionsregierung eine neue Verfassung. Die bisher verbotene freie Religionsausübung ist in ihr ebenso verankert wie zahlreiche Bürgerrechte und der Verzicht des Machtmonopols einer Partei. Unübersehbar sind jedoch einige „Schönheitsfehler“. So regelt Artikel 50, daß die Wahl des Wohnsitzes im Inland gesellschaftliche Interessen nicht beeinträchtigen darf. In der alten Verfassung hieß der gleiche Artikel, die Interessen der Partei dürften bei der Freizügigkeit nicht beeinträchtigt werden. Weiterhin werden — nach Angaben von Bürgerkomitees — unliebsame Personen in ländliche Gebiete verbannt. Rechtsgrundlage dafür bieten Artikel 56 und 65 der neuen Verfassung, hier ist zu lesen, daß „die Internierung und Verbannung Krimineller als vorbeugende Maßnahme“ bestehen bleibe.

Einer dieser Verbannungsorte ist Gradishte — ein Ort, den man auch heute auf keiner Landkarte findet. In diesem albanischen Nirgendwo — von ihren BewohnerInnen „Käfig“ genannt — leben derzeit über 500 Menschen. Aus politischen Gründen inhaftierte „Sippenhäftlinge“. Geändert hat sich nur, daß die Verbannten erstmals in den heimischen Medien ihre Leidensgeschichte erzählen können. So die Schwiegertochter jenes Emigranten Ibrahim, der zwischen 1949 und 1956 aus dem italienischen Exil heraus eine „antikommunistische Widerstandsbewegung“ führte. Die alte Frau: „Meine Familienangehörigen wurden wie Tiere im Käfig gehalten.“ Noch immer hausen sie in einer erbärmlichen Lehmhütte. Zehn Personen teilen sich ein Schlafzimmer, eine Küche, ohne Licht, Heizung, ohne Wasser. Erst seit kurzem besitzen sie ein Radiogerät. Erst vor wenigen Wochen wurden die hohen Wachtürme, die Stacheldrahtverhaue und Minenfelder um das Lager abgebaut. Doch einen Arzt bekam bis heute keiner zu Gesicht. Nahm man den Eltern früher ihre Kinder weg, arbeiten die Jugendlichen jetzt auf den umliegenden staatlichen Kolchosen für 40 Lek im Monat, während Gleichaltrige 500Lek nach Hause bringen. Eine Summe, die gerade für das Lebensnotwendigste reicht. „Von Freiheit ist nichts zu spüren“, mit diesen Worten kam Hyrie Kupi in einer Fernsehsendung zu Wort. Dies ließ aufhorchen, denn die Großfamilie des Familienältesten Hyrie sind die letzten Verwandten jenes antifaschistischen Widerstandskämpfers Abaz Kupi, der gegen die faschistischen Okkupanten während des Zweiten Weltkrieges eine Partisanenformation anführte, sich jedoch mit Enver Hoxha überwarf und liquidiert wurde. Hyrie Kupi: „War die Vergangenheit schon schrecklich, fehlt uns jede Zukunft.“ Mißtrauen begegne jedem von ihnen, die Bauern der Gegend wollten mit ihnen nichts zu tun haben, man verweigere ihnen jede Arbeit in den Betrieben. Und die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Nicht nur Gradishte, auch in anderen ländlichen Gebieten besitzen die Menschen noch keinen Personalausweis, und ohne den ist nach wie vor selbst eine Reise in die nächstgelegene Provinzstadt nur mit Sondergenehmigung erlaubt.