Von einem Kompromiß weit entfernt

Vor der morgigen Abstimmung über den künftigen Regierungssitz verlieren sich letzte Hoffnungen auf einen tragfähigen Kompromiß/ Verschieben wollen die Parlamentarier die Entscheidung aber nicht  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

Daß jene aufeinanderrasenden Züge, dieses vielbeschworene Bild, noch aufzuhalten seien, mag keiner mehr glauben. Doch das hält einige Akteure nicht davon ab, unverdrossen von Konsens zu sprechen, von fairen Angeboten, obwohl nicht einmal ein Kompromiß in Sicht ist. Man sei weiter voneinander entfernt als vor drei Wochen, gestand Bundesratspräsident Voscherau (SPD) am Montag abend ein. Einen Tag bevor der Bundestag entscheidet, weist alles auf eine Kampfabstimmung zwischen den Alles-oder-nichts-Positionen der Bonn- oder Berlin-Befürworter hin. Nach den vernebelnden Formeln der letzten Wochen stehen sich nun die Interessen unverhüllt und auf den Kern reduziert gegenüber: Bonn will Bundesregierung und Parlament behalten, Berlin beides haben. Die Hoffnung, der Geißler-Vorschlag, der den Berlinern das Parlament zugesteht, sei ein tragfähiger Kompromiß, verringert sich vor den letzten Beratungen der Fraktionen, zumal dessen Konstruktion mit unabweisbaren Fragezeichen versehen ist.

Je näher die Abstimmung rückt, die die Bonner per Live-Übertragung auf ihrem Martktplatz erleben dürfen, umso schriller werden die Töne. Den Anspruch, ernst genommen zu werden, hat zumindest ein Teil der Akteure längst aufgegeben. „Todesurteil mit Vollstreckungsaufschub“ nennt Bonns Bürgermeister Daniels jeden Abstrich vom Ist-Zustand. Obrigkeitstreue Bürokraten gerieren sich plötzlich als glühende Förderalisten und streiten mit Bonn als Reliquie gegen den zentralistischen Moloch Berlin. Listig nennt man den Pro-Bonn-Vorschlag denn auch die „bundesstaatliche Lösung“. Das Parlament müsse mehr tun für die deutsche Einheit, als Berlin das zu geben, was auch Stalin gewährte — daß der Bundestag ab und an in Berlin tagen könne, setzt Berlin- Lobbyist Lüder (FDP) dagegen.

Wie die Mehrheitsverhältnisse aussehen, vermag derzeit niemand zu sagen. Alle Fraktionen sind zerrissen; die Truppen auf Linie zu bringen haben die Hauptleute aufgegeben. Galt Mitte letzter Woche eine knappe Mehrheit für Berlin als ausgemacht, so fachte die Abgeordneten-Umfrage einer Sonntagszeitung mit entgegengesetztem Ergebnis alle Spekulationen neu an. Auch Bundeskanzler Kohl, der sich als „einfacher Abgeordneter“ für Berlin aussprach, soll sich mit Bonn bereits abgefunden haben, wollen einige Beobachter wissen. Längst scheint es aber, als hätten auch die JournalistInnen, die selten ein Thema so emotionalisiert und betroffen verfolgten, jede realistische Abschätzung verloren.

Der Geißler-Plan — Regierung in Bonn, Parlament in Berlin — gewinnt lediglich durch den Mangel an wirklichen Alternativen. Möglicherweise müsse er mit Bauchschmerzen für den Geißler-Plan stimmen, tat etwa der SPD-Fraktionschef Hans- Jochen Vogel kund, damit Berlin überhaupt was abbekommt. Von den Vorteilen der Trennungslösung aber könne man ihn „schwerlich überzeugen“. Was einige als salomonische Teilung preisen, ist anderen der kaukasische Kreidekreis, wo der Parlamentarismus vor der Zerreißprobe steht. Geißlers nachdrückliche Beteuerungen, sein Kompromißmodell sei billig, erhalte die Arbeitsplätze in Bonn, lasse den Berliner Immobilienmarkt nicht zusammenbrechen und schaffe dem Bundestag außerdem fernab der Bundesregierung völlig neue Emanzipationschancen und stärke damit den Parlamentarismus, kann die wenigsten überzeugen. Auch die Expertise der Ministerien, mit aufwendigem Einsatz von Videokonferenzen, modernster Telekommunikation, Hochgeschwindigkeitszügen und großzügigem Personen-Shuttle zwischen Bonner Ministerien und Berliner Parlamentssitz sei das Geißler-Modell als praktikabel zu bezeichnen, ändert daran nichts.

Für die Bonn-Befürworter ist bereits der Wegzug des Parlaments unakzeptabel, zumal sie überzeugt sind, daß dann der Rest der Bundesregierung nachziehen wird. Diesen „Rutschbahn“-Effekt per Gesetz zu verbieten, wie Geißler vorschlägt, dem mögen die Bonn-Freunde nicht trauen. Das scheint nicht unberechtigt. Denn auch die Berlin-Befürworter vertreten hinter vorgehaltener Hand diese Erwartung. Auch ein Gesetz könne dies nicht aufhalten. Ta panta rhei — alles fließt, auch Mehrheitsverhältnisse, sagt ein Abgeordneter.

Offen ist, wie am Donnerstag abgestimmt wird, wenn drei Anträge auf der Tagesordnung stehen. Das werden am heutigen Mittwoch die Fraktionsspitzen und der Ältestenrat aushandeln. Werden erst die weitestgehenden Anträge abgestimmt? Oder kommt Paragraph 50 der Geschäftsordnung des Bundestages zur Anwendung, der das Verfahren bei der Auswahl des Sitzes einer Bundesbehörde regelt? Danach wird in einem ersten Wahlgang festgestellt, welche beiden Anträge die meisten Stimmen auf sich vereinigen, die dann im zweiten Wahlgang gegenüberstehen. Erhält allerdings ein Antrag bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, dann entfällt der weitere Urnengang — ein Punkt, der das Berlin-Lager aufschreckt. Denn wenn alle drei Anträge gleichberechtigt nebeneinanderstehen, ist absehbar, daß der Bonner Antrag die meisten Voten erhält, weil sich die Stimmen der Berlin-Befürworter auf die beiden anderen Anträge aufteilen. Fiele aber der Geißler-Plan als einziger Kompromißweg beim ersten Wahlgang raus, wäre dies ebenso mißlich. Dies unklare Procedere läßt Geißler wohl zögern, seinen Antrag einzubringen. Fest steht nur, daß das Parlament am Donnerstag in einer offenen Debatte, bei der jeder Abgeordnete sprechen kann, ab neun Uhr morgen beraten wird. Zur namentlichen Abstimmung wird es voraussichtlich nicht vor dem Abend kommen; möglicherweise erst in der tiefen Nacht.

Nur wenige sind dafür, die Notbremse zu ziehen und die Entscheidung zu vertagen. Selbst Innenminister Schäuble (CDU), der eine Vertagung um vier Jahre angeregt haben soll, bestreitet dies. Die Parlamentarier haben offenbar begriffen, daß sie sich vollends lächerlich machen würden, sich so aus der Verantwortung zu stehlen und gleichzeitig eine Volksabstimmung abzulehnen.

Eine Hintertür aber bleibt offen. Schließlich gehen alle Seiten davon aus, daß einem Umzug nach Berlin eine mindestens vier- bis zehnjährige Bauphase vorgeschaltet ist. Dies ließe Zeit, Entscheidungen zu portionieren.