Speiseeis und krude Gedichte

■ »Katafalk—Der Leichenwagen« von Valerij Todorowskij als deutsche Erstaufführung im fsk

Valerij Todorowskij (29) ist der Sohn des russischen Regisseurs Pawel Todorowskij und hat bislang als Drehbuchautor gearbeitet. Sein Film KATAFALK (Der Leichenwagen), hat in Deutschland noch keinen Verleih gefunden. Todorowskij lehnt es — wie viele jüngere Regisseure aus der Sowjetunion — ab, seinen Film der staatlichen »Sovexportfilm« zum Vertrieb im Ausland zu überlassen; statt dessen kümmert er sich, so gut er kann, selbst darum, den Film zu vertreiben. So kommt es, daß KATAFALK demnächst nur im fsk zu sehen ist; so kommt es aber auch, daß unklar ist, wann und wo und wie er das nächstemal zu sehen sein wird.

KATAFALK ist — anders als andere russische oder nichtrussische Filme — kein »Marathon-Film«, der sich stundenlang abstrampelt, um seine Botschaft zu überbringen, und irgendwann entkräftet zusammenbricht. Er nimmt sich einfach die Zeit, die er braucht, um seine Geschichte zu erzählen. Die beginnt mit der Begegnung dreier Menschen, und sie dauert so lange, wie diese drei es eben miteinander ertragen. Also nicht allzu lange. Ein paar Tage, ein paar Augenblicke oder — um ganz genau zu sein — siebenundsechzig Kinominuten. Der Film überläßt seine Protagonisten in dem Augenblick sich selbst, als jeder der drei die anderen endgültig sich selbst überlassen hat; und weil es ein böser Film ist, kriegt jeder am Ende noch einen Wunsch erfüllt.

Vor einer heruntergekommenen Vorstadtvilla, in der die alte Witwe Jewgenija Andrejewna mit ihrer Tochter Mascha haust, taucht ein Unbekannter auf, der sich nicht wieder vertreiben läßt. Er quartiert sich bei ihnen ein, läßt sich verpflegen und kümmert sich dafür um alles, was repariert und renoviert werden muß. Eines Tages entdeckt Sascha — so der Name des Fremden — in einem alten Schuppen hinter dem Haus eine große, schwarze S.I.L.-Limousine, wie sie in den fünfziger Jahren als Staatskarosse benutzt wurde. Von da an ist er mit dem Auto beschäftigt; er repariert es, pflegt es, bringt es auf Hochglanz. Er will diesen Wagen haben, koste es, was es wolle. Aber die Alte will auch etwas von ihm: Er soll ihre Tochter Mascha heiraten.

Die ist »nicht richtig im Kopf«; jedenfalls behauptet sie das von sich selbst. Sie hat sich irgendwann geweigert, erwachsen zu werden. Sie liebt Eis über alles, rezitiert lautstark und mit heiligem Ernst krude Komsomolzengedichte und ist traurig, daß niemand mit ihr spielt. Die Alte will endlich sterben, ihre Zeit ist vorbei — aber vorher will sie Mascha versorgt wissen.

Zwischen ihr und Sascha bricht offener Kampf aus. Sie versuchen mit allen Mitteln, sich gegenseitig auszumanövrieren, um vom anderen zu erreichen, was sie wollen. Und zunächst ist es die Alte, die das Spiel besser spielt. Sie schickt Sascha mit einem riesigen Geldbetrag zum Großeinkauf in die Stadt, obwohl sie weiß, daß sie ihm nicht trauen kann. Er durchschaut sie; und weil er selbst nicht berechenbar sein will, kommt er mit dem Einkauf zurück und rechnet das Geld bis auf die kleinste Kopeke ab. Sie sagt ihm auf den Kopf zu, daß er sich für den Wagen verkaufen würde. Er ist darüber so wütend, daß er ihr mit dem frisch eingekauften Strick die Hände auf den Rücken fesselt; dann setzt er sich in den Wagen, um zu verschwinden. Aber er tut es nicht, weil es längst nicht mehr ums Gewinnen, sondern ums Spielen selbst geht. Die Alte begreift das genau, deshalb ist sie ihm überlegen. Indem sie mit vollem Einsatz spielt, riskiert, alles zu verlieren, fordert sie ihn dazu heraus, weiterzumachen und selbst immer mehr aufs Spiel zu setzen. Solange sie sich nicht geschlagen gibt, kann er nicht fort. »Deine Art zu leben paßt mir«, sagt er zu ihr, als er mit dem Einkauf zurückkommt.

Eines Tages steigt er wirklich mit Mascha in den schwarzen Wagen, um in die Stadt zu fahren, zum Standesamt. Die Alte bleibt zurück. Sie hat nicht verloren, und sie weiß, daß sie damit alles erreicht hat, was sie erreichen konnte. Über den Tod hinaus kann sie nicht Siegerin bleiben. Beim Abschied sieht sie Sascha böse an, lange Zeit, dann sagt sie: »Betrüg nicht!« Er erwidert: »Ich werde betrügen.«

Am Ende nehmen sich beide ihren Anteil vom Gewinn: Die Alte klettert ins Sterbebett, Sascha in den schwarzen Wagen. Und Mascha, der Trostpreis für den Verlierer in einem Spiel, bei dem niemand verloren hat, findet sich ganz allein vor einem Eiskiosk wieder, im strömenden Regen, mit eisverschmiertem Mund und mit einem Brautkranz aus Plastikblumen auf dem Kopf. Weil sie gelernt hat, niemanden zu brauchen, der gerade nicht da ist, hält sie sich nicht damit auf, jemanden zu vermissen; statt dessen hilft sie der Eisverkäuferin, die gerade Dienstschluß hat, die Getränkekästen in den Kiosk zu schleppen. Das Leben sei schon schön, sagt die Eisverkäuferin mitleidig zu ihr, als sie danach bei einer Zigarette zusammenhocken. Ja, sehr schön, stimmt Mascha zu. »Zum Heulen schön!« legt die Eisverkäuferin nach. Heul ruhig, meint Mascha vergnügt, ich werde dich nicht stören, man muß es den Hunden abgucken. Und dann macht sie es ihr vor. Anselm Bühling

KATAFALK ( Der Leichenwagen ). UdSSR 1990, 67 min., OmU. Regie: Valerij Todorowskij, Buch: Marina Scheptunowa nach einer Erzählung von F. O'Connor, Darsteller: Wija Artmane, Alexander Iljin, Irina Rozanowa. Vom 20. Juni bis 3. Juli, 20.00 und 21.30 Uhr im fsk, Wiener Straße 20.