Der Märchenprinz als Bösewicht

■ Matt Dillon in James Deardens Film „Der Kuß vor dem Tode“

Hat Hollywood mit einem Mal sein Mißtrauen gegenüber den Schönlingen entdeckt? Und das nach einem Jahrzehnt, in dem männlicher Narzißmus Leinwandtriumphe feierte? Ist es Männern wie Matt Dillon, wie zuvor Richard Gere und Rob Lowe, mit einem Mal zu eng geworden im goldenen Käfig der Teenagerschwärmerei? Und wußte er sich keinen anderen Rat, als nun auch einmal einen abgrundtief Bösen zu verkörpern?

Kaum fünf Minuten sind in seinem neuen Film verstrichen, da hat er schon den ersten kaltblütigen Mord begangen, und wir ahnen bereits, es wird nicht sein letzter bleiben. In Der Kuß vor dem Tode spielt er eine Figur, deren einzige raison d'être die Habgier ist. Jonathan Corliss ist ein rücksichtsloser Ehrgeizling, der sich einen Kindheitstraum erfüllen will: das Imperium des Kupfermagnaten Thor Carlsson (Max von Sydow) zu erobern. Zunächst hat er ein Verhältnis mit dessen Tochter Dorothy (Sean Young, mit blonder Perücke), aber als diese unplanmäßig schwanger wird (und den Zorn des Vaters fürchtet), bringt er sie kurzerhand um und täuscht Selbstmord vor. Mit Erfolg umwirbt er daraufhin ihre Schwester Ellen (Sean Young, mit dunklen Haaren). Der vermeintliche Märchenprinz versteht es auch, den hartherzigen Vater für sich einzunehmen, indem er ihm die Rolle des braven Aufsteigers mit ausgeprägtem Familiensinn vorspielt. (Dies geht nicht ohne eine gewisse Ironie vonstatten, wenn wir uns erinnern, daß Regisseur James Dearden als Drehbuchautor von Fatal Attraction gerade letztere Tugend militant zu verteigen wußte!) Corliss' Rechnung geht indessen nicht so glatt auf, wie er es sich erhofft hatte: Ellen wird mißtrauisch.

Deardens Rechnung ebenfalls nicht: Es mag zwar auf dem Papier eine gute Idee gewesen sein, Dillon als verführerischen Schurken zu besetzen, im Film gewinnt er jedoch nie etwas wirklich Schillerndes oder Bedrohliches. Daß Dearden den Film ganz altmodisch und geradlinig als Kriminalfilm inszeniert hat, macht ihn dennoch sehenswert. Wer sich heutzutage im Kino diesem Genre nähert, tut dies zumeist nicht allein aus der Lust an der Kriminalintrige, sondern inszeniert seinen Film vorrangig als Psychothriller oder Film- Noir-Stilübung.

Als Gerd Oswald diesen Stoff Mitte der fünziger Jahre zum ersten Mal verfilmte, war das noch anders. Er konnte sich der sicheren Konvention des Genres bedienen und deshalb einen um so wagemutigeren Film machen. Bei ihm wurde der Zuschauer zum Mitwisser des Mordplanes und — weil dieser so raffiniert erdacht war — auch zum Komplizen des Mörders.

Dearden erweist sich hingegen als schlauer Epigone: Er hat begriffen, daß sein Film nur dann neben dem Original bestehen kann, wenn er die Akzente entschieden verlagert. Er bedient sich einer eindeutigen Identifikationsstrategie (der Zuschauer ist auf der Seite der Schwester der Ermordeten) und scheint doch seiner Sache nie wirklich sicher zu sein: Jeder Handlungsabschnitt wird gleich mehrfach motiviert, die Dialoge sind expliziter, auch gibt es mehr Morde. Dabei hätte er lediglich seinem ursprünglichen Instinkt mehr vertrauen müssen, denn in Sean Young hat er eine formidable Heldin gefunden, eine reizvolle Gegenfigur zum materialistischen Dillon: Sie hat früh gegen den dominierenden Vater rebelliert und demonstrativ ihr soziales Gewissen entdeckt. Sie ist eine sympathische Neurotikerin voller Schuldkomplexe, die sie zwingen, den Selbstmord der Schwester fortwährend zu hinterfragen.

Leider mußte auf diese Weise eine hübsche Idee aus dem Original auf der Strecke bleiben. Da kommen der Heldin Zweifel am Selbstmord ihrer Schwester, weil sie die Indizien mit Hilfe ihrer patenten Junggmädchenlogik zusammenzählt: die Schwester trug am Todestag etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes und etwas Blaues. Wer sich in den USA so ausstaffiert, der denkt nicht an Selbstmord, sondern an Heirat! Gerhard Midding

James Dearden: Der Kuß vor dem Tode, nach dem Roman von Ira Lewin, mit Matt Dillon, Sean Young, Max von Sydow u.a., USA 1991, 95 Min.