Ganz freizügig sind nur Rentner und Studenten

Der europäische Arbeitsmarkt bleibt unbeweglich/ Kleinkarierte Behörden in den EG-Mitgliedsländern haben das Sagen/ Kaum gegenseitige Anerkennung von Berufsausbildungen/ Unterschiedliche Definitionen von Staatsdienern  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Wenn ihr Lieblingsthema auf der Tagesordnung steht, überbieten sich EG-Kommissare und Europaabgeordnete gleichermaßen mit ungewöhnlichen Kraftausdrücken. Was die Gemüter so erhitzt ist der Umstand, daß Profifußballer trotz ihrer traumhaften Gagen abhängige Beschäftigte sind, die weder ihren Arbeitsplatz frei wählen noch ihr vom EG-Vertrag verbrieftes Recht in Anspruch nehmen können, überall in der Gemeinschaft ihrem Fußwerk nachzugehen. Schuld daran ist der mächtige Europäische Fußballverband Uefa.

In dieser Einschränkung unterscheiden sich die Kickerstars grundsätzlich nicht von der Mehrheit der über 340 Millionen EG-Bürger. Trotz Europapaß können weder ÄrztInnen oder LehrerInnen, noch SchreinermeisterInnen und Poliere in EG-Europa einfach wohnen und arbeiten, wo sie wollen. Ob sie zu den rund 125 Millionen in der EG als Arbeiter, Angestellte oder Beamte Beschäftigten gehören oder freiberuflich sind, ihre Beweglichkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt ist mit administrativen Dornen gespickt. Daran wird vorerst auch der mit großem Propagandazauber vorbereitete EG-Binnenmarkt wenig ändern.

Zwar hatten die Regierungen der sechs EG-Gründerstaaten bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 gleich die „Freizügigkeit der Arbeitnehmer“ mitbeschlossen. Doch von den damals festgelegten vier Freiheiten für Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeit haben die Minister letztere immer stiefmütterlich behandelt. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um die — im EG-Ministerrat auch noch umstrittene — Möglichkeit, in Zukunft überall in der EG ohne Paßkontrolle hinfahren zu können. Kern der versprochenen Freizügigkeit ist vielmehr die „Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen“.

Bislang können nur StudentInnen und RentnerInnen von dem damit verbundenen Niederlassungsrecht ungehindert profitieren. Aufschwungsbedingt wurde auch den sogenannten Gastarbeitern (meist ungelernten Arbeitern aus den Armenhäusern Europas) bereits 1968 eine relative Freizügigkeit gewährt. Für die große Mehrheit der EG-BürgerInnen hingegen gibt es zwar den theoretischen Anspruch, seine Verwirklichung ist jedoch vielfach weiterhin von der Gutmütigkeit der nationalen Verwaltungen abhängig.

Wie sich die Ämter in Europa gleichen, ohne harmonisiert zu sein, zeigt die große Zahl der vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg anhängigen Verfahren. Ein Trost für alle „Europäer“: In der Regel entscheiden die Luxemburger Richter nach Maßgabe eines nur in Ansätzen existierenden europäischen Arbeitsmarktes — sehr zum Entsetzen vieler nationaler Richter. Von der Förderung des „Sozialtourismus“ ist dann die Rede oder von der „Preisgabe der Konkurrenzvorteile“. Schließlich füllen die europäischen Richter die allgemeinen Freizügigkeits-Floskeln der EG-Verträge immer mehr mit Inhalt — und unterlaufen so die Abschottungspolitik der nationalen Behörden.

Unterstützung erhalten die Amtsleiter und Richter in Braunschweig, Mailand oder Marseille dabei von ihren Berufsverbänden und Gewerkschaften: Schon warnte die deutsche Ärztekammer vor einer Völkerwanderung britischer ÄrztInnen, die ihren Lohn bei der Kanalüberquerung vervielfachen könnten. Ähnlich argumentieren Postbeamte, Lokführer, LehrerInnen — „unsere hohen Ausbildungsstandards“ sollen plötzlich mit denjenigen von Spanien oder Griechenland gleichwertig sein, wo doch selbst noch innerhalb der Bundesrepublik von Bundesland zu Bundesland — von den „Neuen“ ganz abgesehen — große Unterschiede herrschen.

Zu Diensten kommt den Protektionisten, daß die EG-Minister sich noch nicht auf eine gegenseitige Anerkennung von Berufsausbildungsgängen einigen konnten. Trutzburgen im europäischen Meer der Arbeitsuchenden sind aber die öffentlichen Dienste. Weit davon entfernt, die nationalen Beamtenrechte gegenseitig anzuerkennen, sofern es solche überhaupt gibt, streitet man noch über die Definition, was ein Staatsdiener überhaupt ist. Wohl deshalb schreibt die EG-Kommission selbst: „Es dürfte noch einige Zeit verstreichen, bis ein in Dänemark geborener Spanier, der Dänisch studiert hat, als Dänisch-Lehrer an einer öffentlichen Schule seines Geburtslandes unterrichten darf.“

Bei den städtischen Verkehrsbetrieben ist in einigen Ländern zu beobachten, daß auch ausländischen Mitbürgern das Führen von Bus und Bahn anvertraut wird... Auch der DGB, der nach der deutschen Einheit schon über die billigen Arbeiter aus den neuen Bundesländern schimpfte, wird sich in Zukunft mit Konkurrenten aus der ganzen EG herumschlagen müssen. Denn wenn demnächst öffentliche Großaufträge EG-weit ausgeschrieben werden müssen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis etwa portugiesische Unternehmen mit ihren mitgebrachten Arbeitern in Deutschland Aufträge erledigen. Welche Arbeitsbedingungen sollen dann gelten? Richten sich Lohn, Urlaub und Arbeitszeit nach deutschen oder portugiesischen Gesetzen und Tarifvorschriften?

Heerscharen von Juristen verdrehen bereits seit Jahren nationales und europäisches Recht, um für solche und ähnliche Probleme die passenden Antworten zu finden. Mit einer Sozialcharta versuchte die EG-Kommission schließlich den gordischen Knoten zu zerschlagen. Allein, die EG-Regierungschefs konnten sich im Dezember 1989 nur zu einer rechtlich nicht bindenden Absichtserklärung durchringen — gegen die Stimme Großbritanniens.

Einige haben auch bereits versucht, die Lippenbekenntnisse der Bürokraten in Fakten zu verwandeln — mit unterschiedlichem Ausgang: Ein Belgier war beispielsweise nach drei Jahren erfolgloser Arbeitssuche vom britischen Innenministerium „aus Gründen des öffentlichen Interesses“ abgeschoben worden. Der Prozeß, den er daraufhin anstrengte, ergab, daß er statt der ursprünglich erlaubten drei Monate immerhin sechs Monate in Großbritannien hätte Arbeit suchen dürfen.

Zu Protestgeschrei der deutschen Richterschaft führte letzten Herbst der Entscheid des EuGH, der Tochter eines in Deutschland arbeitenden Italieners Bafög-Leistungen für ein Studium in Sienna zuzuerkennen. Ähnlich umstritten sind die Fragen des Kindergeld- oder Sozialhilfeexports: Schließlich läßt sich mit dem in Deutschland für drei Kinder erworbenen Anspruch auf Kindergeld in Höhe von 4.400 DM pro Jahr in Portugal recht gut leben. Das Jahresnettoeinkommen eines Hilfsarbeiters liegt dort bei 4.000 DM.

Um das „Nord-Süd-Geschäft mit den Sozialleistungen“ zu beenden, wird in der Regel noch immer das ebenso einfache wie radikale Mittel angewandt: die Ausweisung und Abschiebung. Mit der Ideologie des Binnenmarktes ist dies jedoch nicht zu vereinbaren, weshalb es bereits weitergehende Überlegungen gibt: Eine „Pflicht zur Freizügigkeit“ könnte Abhilfe schaffen, indem Empfänger von Arbeitslosen- oder Sozialhilfegeldern ins EG-Ausland vermittelt werden. Dies sind jedoch Zukunftsträume einzelner Arbeitsrechtler, die in den national-bürokratischen Arbeitsämtern noch wenig Widerhall gefunden haben. Kein Wunder — denn statistisch gesehen löst sich das Problem von alleine: Noch nicht einmal zwei Millionen EG-Bürger arbeiten außerhalb ihres eigenen Landes. Die Zahl ist außerdem rückläufig, da viele der ArbeiterInnen, die während der Wirtschaftswunderjahre aus Griechenland, Süditalien und Spanien in den Norden gezogen waren, wieder zurückkehren. Statt dessen nimmt die Zahl der grenzüberschreitenden Fach- und Führungskräfte zu.

Die eigentliche Bewegung findet jedoch an den Außengrenzen der EG statt. Über acht Millionen Nicht-EG- Bürger leben bereits in der „Festung Europa“. Täglich werden es mehr, trotz des Anwerbestopps, der in fast allen EG-Ländern für sie existiert. Mit einer „Doppelstrategie“ will die EG-Behörde jetzt den „Zustrom einwanderungswilliger Menschen eindämmen“. Neben der Vereinheitlichung der Visa- und Asylpolitik soll vor allem durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen in den Herkunftsländern das Interesse an Übersiedlung verringert werden. Gleichzeitig sollen die bereits in der EG lebenden ausländischen Bürger besser integriert werden.

Die Freizügigkeit im Binnenmarkt, so die Sozial-Kommissarin Papandreou, muß auch für sie gelten. Dies sieht auch der EuGH so. In einer Aufsehen erregenden Vorabentscheidung erklärten die Richter, daß gemäß des Assoziationsabkommens zwischen der Gemeinschaft und der Türkei in der EG lebende Türken aufenthaltsrechtlich jetzt schon so ähnlich behandelt werden müßten wie EG-Bürger, obwohl die Türkei noch nicht EG-Vollmitglied ist. Konsequenzen könnte diese Rechtsprechung auch für Tschechoslowaken, Polen und Ungarn haben, die in der EG leben. Schließlich sollen auch mit deren Ländern noch Ende des Jahres Assoziationsabkommen abgeschlossen werden.