piwik no script img

Tatort Altenpflegeheim Garmisch

Prozeß gegen Leiterin des Altenpflegeheims/ Freiheitsberaubung und Mißhandlung alter Menschen  ■ Aus München Colin Goldner

Vor der 3. Strafkammer des Landgerichts München II hat gestern der Prozeß gegen die ehemalige Leiterin des Garmisch-Partenkirchener Altenpflegeheimes „St. Martin“ begonnen. Fünf Punkte umfaßt die Klageschrift gegen Gertrude Rowell (55): Freiheitsberaubung, Mißhandlung Schutzbefohlener, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Unterschlagung und Betrug. Über 50 Zeugen sollen vernommen werden. Der Prozeß ist auf vorläufig acht Verhandlungstage angesetzt.

Vor genau zwei Jahren hatten engagierte Schülerinnen der örtlichen Altenpflegeschule die unfaßbaren Zustände in dem privaten Heim ans Licht gebracht. Bis zu 22 teils schwerst pflegebedürftige alte Menschen waren auf engstem Raum in dem kleinen Einfamilienhaus untergebracht gewesen. Dies bei einem Tagessatz von rund 100 DM pro BewohnerIn. Im ganzen Haus gab es keine behindertengerechte Badewanne, die meisten Alten konnten folglich nie gebadet werden. An allem wurde gespart: Benäßte Bett-Tücher wurden einfach nur umgestülpt, Windeleinlagen auf der Heizung getrocknet und erneut verwendet. Bettnässende Bewohner seien stundenlang mit nacktem Gesäß auf Plastikgartenstühle gebunden worden, damit das Personal sie „mit dem Gartenschlauch abspritzen“ und das Heim so Windeln sparen konnte. Bei alledem habe die Heimleiterin, die keinerlei Pflegeausbildung hat, selber „auf brutale und eiskalte Weise“ Hand angelegt. Vor allem auch am Personal wurde kräftig gespart. Es waren in der Regel nur zwei Praktikantinnen oder Helferinnen angestellt. Meist gab es keine Nachtwache, sprich: Nachts kümmerte sich überhaupt niemand um die alten Menschen. Eine ehemalige Pflegerin: „Am Morgen lagen dann die Patienten in ihren Exkrementen, die schon knochenhart geworden waren, und schrien vor Schmerzen.“ Der Einfachheit halber seien die alten Menschen nachts an ihre Betten gefesselt worden, manche gar rund um die Uhr. Überdies seien die Bewohner und Bewohnerinnen völlig wahllos mit Betäubungsmitteln und Psychopharmaka „ruhiggestellt“ worden. Ansonsten wurde an Medikamenten eher gespart. Wie die Beklagte dem Gericht erläuterte, habe sie Wundliegegeschwüre mit einem „Wunderheilmittel“ behandelt. Sie habe einfach Haushaltszucker auf die Wunden gestreut: „Das desinfiziert und granuliert.“

Selbst an der Verpflegung wurde gespart: So wurde den Senioren durchaus auch Konserven- und Tiefkühlkost verabreicht, deren Verfallsdatum abgelaufen war. Diätvorschriften wurden durchgängig ignoriert. Selbst gänzlich verdorbene Lebensmittel wurden verwendet. Weiter kein Wunder, daß die „Sterbequote“ extrem hoch war. In vier Jahren verstarben 38 der jeweiligen „Insassen“ — meist sehr plötzlich. Und selbst hieraus wußte Gertrude Rowell Profit zu ziehen: Wie die Staatsanwaltschaft ermittelte, habe sie sich Teile des Nachlasses der Verstorbenen angeeignet. Auch habe sie Pflegesätze für bereits Verstorbene weiterkassiert — und die Betten gleichzeitig neu belegt.

Obgleich die Mißstände dem örtlichen Gesundheitsamt bekannt waren, wurde — außer dem Verhängen einiger lachhafter Bußgeldbescheide — nichts unternommen. Erst im Frühjahr 1988 wurde Anzeige erstattet. Es dauerte aber noch einmal über ein Jahr, bis die Staatsanwaltschaft, nach erneuter Anzeige, das Haus Ende April 1989 durchsuchen ließ. Hierbei stellte sich heraus, daß ausgerechnet die drei Heimbewohnerinnen, die zu den Mißständen vernommen werden sollten, unlängst, zwei davon erst kurz vor der Hausdurchsuchung, verstorben waren. Man exhumierte die Leichen der drei Frauen. Da man im Haus „St. Martin“ immense Mengen an hochwirksamen Betäubungsmitteln gefunden hatte, bestand der beklemmende Verdacht, die drei Patientinnen seien womöglich eines „unnatürlichen Todes“ gestorben. Die angeordnete toxikologische Untersuchung ergab indes hierfür keine Anhaltspunkte. Die Gerichtsmediziner stellten bei den exhumierten Körpern einen „äußerst schlechten Pflegezustand“ fest. Sie waren völlig abgemagert und an vielen Stellen wundgelegen. Darüber hinaus fand man Fesselmale an den Handgelenken sowie Anzeichen, daß die Frauen (76, 77 und 87 Jahre) häufig geschlagen worden waren.

Jetzt erst wurde eine Schließung des Hauses verfügt. Gertrude Rowell wurde verhaftet. Zwei Jahre später sitzt sie nun auf der Anklagebank. Sehr zu Recht. All diejenigen aber, die von den Mißständen wußten und nichts dagegen unternahmen — Angehörige, Ärzte, Behörden — werden sich wohl nicht verantworten müssen. Landrat Schmidt ist derzeit im Urlaub, ebenso Hausarzt Dr. Kittstein. Beide können nicht als Zeugen vernommen werden.

Unabhängig davon, mit welchem Urteil der Prozeß gegen Gertrude Rowell enden wird: Sie ist nicht nur Täterin, Schergin, Ausbeuterin — sie ist auch selbst Opfer altenfeindlicher Strukturen und altenfeindlichen Bewußtseins.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen