Zeitungen austragen — eine geringfügige Beschäftigung?

Erstmals gibt es einen Tarifvertrag für die Zustellerinnen des 'Mannheimer Morgen‘/ Drucker fürchten Machtverlust in den Betriebsräten der Verlage  ■ Aus Mannheim Rolf Gramm

Werner Pfennig, Landesvorsitzender der IG Medien, ist sichtlich zufrieden: „Dieser Vertrag ist ein Signal, auch bei anderen Zeitungen vergleichbare Abschlüsse anzugehen.“ Erstmals in der Bundesrepublik ist es der Mediengewerkschaft in Mannheim gelungen, einen Tarifvertrag abzuschließen, der die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen von Zeitungsausträgern regelt, in diesem Falle für die rund 360 Frauen und Männer, die zu nachtschlafender Zeit den 'Mannheimer Morgen‘ (MM) verteilen, der über die Mannheimer Pressevertrieb GmbH (MPV) vertrieben wird.

Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) sieht das zwar ganz anders und sprach prompt von einer „Irreführung der Öffentlichkeit“ durch die IG Medien, weil die Vereinbarung „nicht von Trägern der Tarifhoheit unterschrieben“ und daher kein Tarifvertrag sei. Doch die harsche Abwehr der Verleger ist wohl vor allem auf die Angst zurückzuführen, daß die bundesweit etwa 160.000 Zeitungsausträgerinnen — überwiegend arbeiten Frauen in diesem schlecht bezahlten Beruf — die Mannheimer Vereinbarung als attraktiv ansehen und für sich ähnliche Rechte einklagen werden.

Hatten die Zustellerinnen des 'MM‘ bisher nur die gesetzlich vorgeschriebenen 18 Tage Jahresurlaub, so können sie ab diesem Jahr über 27 und ab 1992 über 30 Urlaubstage verfügen. Erstmals bekommen sie Urlaubs- und Weihnachtsgeld; Regelungen über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Arbeitszeiten und über Kündigungsfristen wurden verbindlich vereinbart. „Selbstverständlichkeiten in anderen Branchen, hier aber etwas völlig Neues“, sagt Paula Müller, Vorsitzende des MPV-Betriebsrates. Kernstück des Vertrages ist die „Entgeltregelung“. Pro ausgetragenes Zeitungsexemplar bekommen die Beschäftigten ab 1.Oktober monatlich 4,45 Mark. Dazu kommen Zuschläge für Werbebeilagen. „Durchschnittlich werden die Zustellerinnen jetzt fast fünf DM monatlich pro ausgetragenes Zeitungsexemplar erhalten“, hat IG-Medien-Bezirkssekretär Wolfgang Scheffel ausgerechnet. Anfang 1990, zu Beginn der Verhandlungen hätten die Zustellerinnen lediglich 3,65 DM verdient.

Zu den Verhandlungen hatte sich die Vertriebsfirma erst bereit erklärt, nachdem sie zwei Arbeitsgerichtsprozesse verloren hatte und die Beschäftigten bei einem eintägigen Warnstreik Entschlossenheit demonstrierten. Bei diesem bundesweit ersten ZustellerInnen-Ausstand waren durch schlichtes Liegenlassen 100.000 Exemplare des 'MM‘-Anzeigenblattes 'Mannheimer Illustrierte‘ zu Altpapier geworden.

Die IG Medien will nun bundesweit zunächst weitere Firmentarifverträge für Zeitungsausträgerinnen aushandeln, um so die Voraussetzungen dafür zu schaffen, später auch bundesweit gültige Tarifverträge durchzusetzen. Ansätze gibt es laut Gewerkschaft bereits in der Mannheimer Region, in Bayern, Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz. Mit sechs großen Zeitungsverlagen stünden Verhandlungen unmittelbar bevor, Namen aber werden nicht genannt. — Die Idee, sich für die Zeitungsausträgerinnen einzusetzen, kam allerdings keinesfalls aus den Chefetagen der Gewerkschaft. „Wir haben da Druck von unten gekriegt“, gibt Funktionär Wolfgang Scheffel zu, „weil wir die vielen Zustellerinnen und Zusteller selbst lange nicht als vollwertige Arbeitnehmer gesehen haben.“ Daß das Zeitungsaustragen von einer Nebenbeschäftigung von Schülern und Rentnerinnen zur Hauptprofession vor allem für zahlreiche Frauen geworden ist, diese Entwicklung habe die Gewerkschaft „schlicht verschlafen“. „Achtzig Prozent unserer Beschäftigten sind Frauen, viele davon alleinerziehend, die andere Arbeiten gar nicht annehmen können“, sagt Betriebsrätin Paula Müller. Wer jahrelang nachts ab 24 Uhr bei jedem Wetter, „oft belästigt von alkoholisierten Nachtwanderern“ bis zu acht Zentner an Zeitungen in die Briefkästen verteile, lasse es sich irgendwann nicht mehr bieten, als „geringfügig Beschäftigte“ auch „geringfügig bezahlt“ zu werden. Erst als die Zustellerinnen immer selbstbewußter die gleichen Rechte wie andere Beschäftigte eingefordert hätten, gar zum Mittel des Streiks griffen, sei die Gewerkschaft „da mit reingezogen worden“, so Paula Müller.

Auch jetzt sind bei der IG Medien keinesfalls alle froh über das neue Engagement des schwächsten Teils der Basis. Denn nach einigen Arbeitsgerichtsurteilen sind die Zustellerinnen jetzt auch berechtigt, den Betriebsrat mitzuwählen, wenn der Verlag den Vertrieb in eigener Regie organisiert. Das aber kann die Mehrheitsverhältnisse unter den Beschäftigten völlig auf den Kopf stellen: In einem Verlag, in dem 800 Beschäftigte in den traditionellen Druckereibereichen mit der Herstellung einer Zeitung befaßt sind, können mit der Auslieferung des Produkts durchaus 1.200 Zustellerinnen beschäftigt sein. Bei Wahlen zum Betriebsrat könnte es nun sein, daß die Austragenden dann — nachdem sie jahrelang überhaupt nicht beteiligt wurden — den Spieß herumdrehen und nur ihresgleichen wählen.

„Die Vorstellung, daß der Betriebsrat völlig von den Zustellerinnen und Zustellern dominiert wird, jagt unseren Druckern schon einen Schrecken ein“, weiß auch Wolfgang Scheffel. Bei manchen Verlagen müssen die Zustellerinnen ihre Vertretungsrechte daher direkt gegen die Widerstände des Betriebsrates einfordern. Wie in Freiburg. Dort, bei der 'Badischen Zeitung‘, fechten ZustellerInnen die letzte Betriebsratswahl an, weil sie nicht mitwählen durften. Die Auseinandersetzung wird inzwischen in dritter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht verhandelt. So verhärtet sind dabei teilweise die Fronten, daß Austrägerinnen in der südbadischen Stadt inzwischen genug von der IG Medien haben — und sich in einer eigenen Zustellergewerkschaft organisieren.